• Eine aufschlussreiche Gegenüberstellung

Heute gibt es im Christentum völlig verschiedene Meinungen darüber, was Gnade ist. Am Anfang war das nicht so. Was ist Gnade wirklich und woher kommen die anderen Lehrmeinungen?

In unserem anderen Beitrag über Gnade zeigten wir bereits, wie uneins sich die wichtigsten deutschen Bibelübersetzungen heutzutage in der Frage sind, wie oft und wo überhaupt Gnade in der Bibel stehen soll. Außerdem erwähnten wir, dass ausgerechnet jene beiden Evangelien, die von Anfang an für die Mission geschrieben und eingesetzt wurden, das Wort Gnade überhaupt nicht enthalten. Es handelt sich um das Matthäusevangelium und das Markusevangelium. Seit Martin Luther sind diese beiden Evangelien nicht mehr die erste Wahl für die Mission, denn es lässt sich damit weder die Gnadenlehre Luthers noch sein Lehrsatz „sola gratia“ (allein aus Gnade) rechtfertigen.

Es wird also Zeit, dass wir uns genau ansehen, was Gnade überhaupt ist.

Im Prinzip gibt es im Christentum zwei gegensätzliche Lehrmeinungen darüber was Gnade ist. Wir wollen sie in diesem Beitrag vergleichend gegenüberstellen und ansehen, woher sie kommen und welche Früchte sie bringen. Hier zum Einstieg ein Überblick.

Gnade ist ...
an Bedingungen geknüpft
ein verdientes Geschenk
abhängig von menschlichen Werken
eine Kooperation zwischen Gott und Mensch, beide sind aktiv
in absoluter Harmonie mit dem freien Willen
nicht vorherbestimmt
verlierbar

Wir werden die Punkte der Reihe nach besprechen und anhand von Zitaten ihrer Verfechter untermauern. Davor möchten wir unsere Leser ermutigen, hier kurz inne zu halten und die Gegenüberstellung in Ruhe wirken zu lassen. Welcher der beiden Seiten würden Sie ad hoc zustimmen? Welche klingt für Sie vertraut und welche kommt Ihnen absurd oder falsch vor?

Auch wenn man vielleicht nicht jedes Argument auf Anhieb nachvollziehen oder beurteilen kann, so sollte doch klar sein, dass die beiden Seiten unvereinbar sind, weil sie einander ausschließen. Am Ende kann nur eine wahr sein.


Bedingungslos?

Gnade ist ...
an Bedingungen geknüpft

Die Vertreter der linken Seite werden nicht müde, ein bedingungsloses Welt- und Gottesbild zu verkünden. Sie glauben an bedingungslose Liebe, bedingungslose Toleranz, bedingungslosen Frieden und bedingungslose Gnade.

Dem entgegnet die rechte Seite, dass das Wort „bedingungslos“ gar nicht im Wortschatz Gottes vorkommt, sondern eine menschliche Erfindung ist, und es bewusst kein Autor der Heiligen Schrift verwendete damit uns das eine Lehre sei, dass bei Gott nichts bedingungslos ist, sondern dass bei Gott alles eine Bedingung, eine Begründung und einen Zweck hat, gerade auch die Gnade.

Die Lehre Christi ist stets auf die Praxis bezogen und so muss auch die Lehre der Apostel immer an der Praxis gemessen und verstanden werden. Wie sieht es in der Praxis nun aus mit Bedingungen in Sachen Gnade?

Beide Seiten sind sich irgendwie darin einig, dass Gnade ein Geschenk ist. Die linke Seite meint nun, dass jedes Geschenk bedingungslos sein muss, sonst ist es kein Geschenk. Wie sieht das in der Praxis aus? Gibt es Geschenke mit Bedingungen? Ja, sagt die rechte Seite. Ein Geburtstagsgeschenk gibt es zum Beispiel nur zum Geburtstag und nur für das Geburtstagskind! Auch wenn alle anderen Geschwister ebenso gerne ein Geschenk hätten, sie müssen lernen und akzeptieren, dass nur das Geburtstagskind Geschenke bekommt. Das ist eine klare Bedingung und wird von allen verstanden, die sie in der Praxis gelernt und erlebt haben. Es wäre kein Geburtstagsgeschenk, wenn es auch jene bekämen, die nicht Geburtstag haben. Das gilt auch für andere Geschenke. Weihnachtsgeschenke gibt es nur zu Weihnachten. Hochzeitsgeschenke nur zur Hochzeit und nur für das Hochzeitspaar. Muttertagsgeschenke nur am Muttertag und nur für Mütter. Jeder wird einsehen und bestätigen, dass das alles Geschenke sind - und dennoch unterliegen sie Bedingungen.

In Wahrheit machen erst die Bedingungen diese Geschenke zu besonders wertvollen Geschenken, auf die man sich freut und die man gerne annimmt, wenn man die entsprechende Bedingung erfüllt. Bedingungslose Geschenke erscheinen in der Praxis hingegen rasch wertlos, wie zum Beispiel Werbegeschenke bei Veranstaltungen. Wenn so ein Geschenk wirklich jeder Mensch bedingungslos bekommt, dann ist es nichts besonderes mehr und wird auch nicht mehr geschätzt. Man hält sie nicht in Ehren und hütet sie nicht. Sie sind daher meist billige Massenprodukte. Daher ist die linke Seite, die behauptet, Gnade verliere ihren Wert oder wäre kein Geschenk, wenn sie an eine Bedingung geknüpft wäre, praxisfremd. Die rechte Seite aber, die sagt, dass ein Geschenk durchaus an eine Bedingung geknüpft sein kann und sogar erst dadurch an Wert gewinnt, ist nachvollziehbar. So ein Geschenk hat jeder Mensch im täglichen Leben schon kennen gelernt. Tatsächlich wirft die rechte Seite der linken Seite vor, Gnade zu einem billigen Massenprodukt zu machen.


Unverdient?

Gnade ist ...
ein verdientes Geschenk

Ähnlich gelagert ist die Frage, ob ein Geschenk unverdient oder verdient sein kann.

Wieder behauptet die linke Seite, dass ein Geschenk nur ein Geschenk sei, wenn es unverdient ist. Andernfalls sei es kein Geschenk sondern ein Lohn. Das klingt für viele Menschen auf Anhieb logisch und richtig. Aber auch hier entgegnet die rechte Seite, dass nicht alles, was in der Theorie richtig klingt, auch in der Praxis richtig ist. Wiederum muss der Praxistest her.

Wer kennt sie nicht, die Geschichten, wo der Held, der einen bösen Feind tötet, als Dank dafür die Prinzessin und das halbe Königreich geschenkt bekommt? Es muss jedem klar sein, dass ein halbes Königreich und obendrein die Prinzessin vielmehr wert sind als die geforderte Arbeitsleistung. Denn der Lohn dafür wäre der normale Sold eines extra zu dem Zwecke angeheuerten Söldners. Oder das Kopfgeld, das auf den Bösewicht ausgeschrieben ist. Der Unterschied zwischen einem Kopfgeld und diesem Geschenk ist gigantisch. Es ist also ein Geschenk, was dem Held in Aussicht gestellt wird, aber er muss es sich verdienen.

Ein Beispiel aus unserer heutigen Zeit: Es gibt in einigen christlichen Ländern den Brauch, dass zu Weihnachten Häftlinge aus dem Gefängnis entlassen werden. Weihnachtsamnestie heißt das. Oft handelt es sich dabei um Gewaltverbrecher, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, und nun aber begnadigt werden. Geschieht das nach dem Prinzip „unverdient“, etwa per Zufall? Wird gewürfelt oder eine Lotterie veranstaltet? Keinesfalls! Es wird in der Regel dem König, Präsident oder Gouverneur des jeweiligen Landes eine Liste von Sträflingen vorgelegt, die über längere Zeit positiv aufgefallen sind, weil sie im Gefängnis vorbildliche Insassen waren und somit durch ihre gute Führung glaubhaft zeigten, dass sie sich ernsthaft bessern wollten und daher eine zweite Chance verdienen. Sie haben keinen Anspruch darauf begnadigt zu werden, aber sie verdienen es. Das ist ein feiner Unterschied.

Die linke Seite behauptet, dass jeder Mensch es verdient hätte, eine zweite Chance zu bekommen. Darauf entgegnet wiederum die rechte Seite, dass auch das in der Praxis widerlegt ist. Denn niemand will die Verantwortung tragen, was zu Weihnachten auf der ganzen Welt los wäre, wenn alle Verbrecher aller Gefängnisse begnadigt würden. Es mag zwar ein romantischer Gedanke sein, wenn alle Gefängnisse dieser Welt leer stünden, aber es bräche Chaos, Gewalt und Verbrechen in ungeahntem Maße überall aus und keine Polizei würde das in den Griff bekommen. Es hatte ja schließlich einen Grund, warum man diese Menschen wegsperrte. Sie sind schlecht für die Gesellschaft und richten irreparable Schäden an, wenn sie sich frei bewegen können. Andererseits aber gibt es in manchen Fällen gute Gründe, Menschen zu begnadigen. Aber nicht wahllos nach dem Zufallsprinzip, sondern nur jene, die es verdient haben. Das harmoniert mit dem Rechtsverständnis und Gerechtigkeitsgefühl der freien Menschen und so ist es nachvollziehbar, dass auch Gnade verdient sein muss, denn Gnade ist kein theologischer Fachbegriff des Christentums (auch wenn manche Theologen das gerne so hätten), sondern ein alltäglicher Begriff aus dem Leben in einem guten Rechtsstaat.

Dazu hat übrigens die Heilige Schrift einiges aufschlussreiches zu sagen. Wie bereits in dem anderen Beitrag über Gnade erklärt, ist das Griechische Wort hierfür charis. Wir haben dort viele Stellen behandelt, wo dieses Wort unterschiedlich übersetzt wird. Aber das waren bei weitem nicht alle. Eine weitere - sehr brisante – finden wir im Lukasevangelium. Dort sagt Jesus:

Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. (Lk 6,32)

Keine Übersetzung schreibt hier Gnade, obwohl im Griechischen Grundtext charis steht! Stattdessen schreiben die meisten Dank oder Anerkennung. Damit verschleiern sie aber, dass Lukas hier eigentlich von Gnade spricht, Gnade so wie die Apostel sie von ihrem Meister, dem Herrn Jesus, lernten. Aber das ist noch nicht alles. Der Heilige Geist wusste im Voraus, was gewisse Menschen mit dem Wort Gnade anstellen würden und hat Vorkehrungen getroffen, um aufmerksamen Menschen trotzdem zu zeigen, was Gott wirklich meint. Und so hat Matthäus, der, wie wir bereits ebenfalls schon erwähnten, das Wort Gnade (charis), überhaupt nicht braucht, dieselbe Aussage von Jesus anders formuliert. Und zwar so:

Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? (Mt 5,46).

Matthäus schreibt hier nicht charis, sondern misthos, und das bedeutet Lohn, Verdienst oder Belohnung und übersetzen alle Bibeln richtig an der Stelle.

Was soll uns das sagen? Es beweist, dass die Apostel das Wort charis (Gnade) selbstverständlich als gleichbedeutend mit misthos (Lohn) verstanden und gebrauchten. In ihrer Sprachwelt war Gnade also keineswegs unverdient, im Gegenteil, es war ein anderes Wort für Verdienst oder Belohnung. So verstanden sie es, und das gibt auch der Bedeutungsumfang des Griechischen Wortes charis her. Und das kommt – wenn man das weiß – an vielen Stellen der Schrift zum Ausdruck. Das Problem ist heute aber, das seit ein paar Jahrhunderten die meisten Menschen ein verzerrtes Bild von Gnade haben und somit die Heilige Schrift anders lesen als die Autoren, die es schrieben, und als deren Leser damals, die noch wussten, was charis wirklich bedeutet. Wir kommen darauf noch am Ende zu sprechen mit einem Vorschlag zur besseren Übersetzung in heutigem Deutsch. Hier sei nur erwähnt, dass Jesus Christus auch von Lohn oder Verdienst sprach, wenn Er über Gnade und Errettung redete. Das muss man wissen und sich merken.


Unabhängig von menschlichem Werken?

Gnade ist ...
abhängig von menschlichen Werken

Passend zu der Vorstellung, dass Gnade unverdient und bedingungslos sei, will die linke Seite sie unabhängig von menschlichem Bemühen verstanden wissen. Das macht in dieser Gedankenlinie irgendwie Sinn. Denn wenn jemand Gnade weder verdient noch eine Bedingung erfüllen muss, dann kann er sie nur bekommen, wenn sie unabhängig von seinem Bemühen ist. Die zwei ersten Punkte erzwingen somit automatisch den dritten (und übrigens auch den vierten und fünften und alle anderen auf der linken Seite), sonst kann dieses Gnadenverständnis nicht funktionieren.

Die Fürsprecher der rechten Seite verstehen die Logik der linken Seite, aber sie erwidern, dass nicht alles, was in sich logisch und schlüssig klingt, am Ende in der Praxis auch stimmig ist. Genauso wie bereits die ersten beiden Argumente der linken Seite in der Praxis nicht standhalten, verhält es sich mit dem dritten. Als Beweis kann man erneut die gelebte Praxis der Weihnachtsamnestie heranziehen. Nur das ernsthafte und dauerhafte Bemühen der Verbrecher hat dazu geführt, dass sie wegen guter Führung begnadigt wurden. Keine Begnadigung findet ohne irgendein Bemühen statt. Immer muss derjenige, der begnadigt werden möchte, sich darum bemühen. Von nichts kommt nichts. Ein zu lebenslanger Haft Verurteilter bleibt lebenslang im Gefängnis sitzen und wird nie begnadigt, wenn er sich nicht darum bemüht.

„Schön und gut“, wirft die linke Seite ein, „das gilt für die Welt, aber bei Gott ist das anders!“

„Das ist wieder nur eine Behauptung“, kontert die rechte Seite, „aber wo sind eure Beweise?“

„Der Schächer am Kreuz!“ schallt es wie aus einem Mund triumphierend von links.

Das muss man jetzt vielleicht erklären. In unserem Lexikon steht, dass das Wort Schächer „in der Luther-Bibel die beiden mit Jesus gekreuzigten Räuber oder Zeloten“ bezeichnet. Tatsächlich aber fanden wir keine Lutherbibel, in der das Wort Schächer vorkommt. Stattdessen steht in allen uns vorliegenden Lutherbibeln (2017, 1984, 1545) bei Matthäus „Mörder“ (27,44) , bei Markus „Mörder“ (15,27) bzw. „Übeltäter“ (15,28) und schließlich bei Lukas ebenfalls „Übeltäter“. Falls also eine Lutherbibel das Wort Schächer eingeführt haben soll, muss sie irgendwo zwischen 1545 und 1984 hin und her revidiert worden sein. Wir nehmen zweckdienliche Hinweise gerne an.

Hier die für das oben angeführte Argument ausschlaggebende Stelle aus dem Lukasevangelium nach der Lutherbibel von 1545:

Es wurden aber auch hingeführt zwei andere Übeltäter, daß sie mit ihm abgetan würden. Und als sie kamen an die Stätte die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn daselbst und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. [..] Aber der Übeltäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach:
Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns!
Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor GOtt, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und zwar wir sind billig darinnen; denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt. Und sprach zu JEsu: HErr, gedenke an mich wenn du in dein Reich kommst!
Und JEsus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradies sein. (Lk 23,32-33.39-43)

Wir sehen hier zwar keinen Schächer, trotzdem hat sich das Wort „Schächer“ im Sprachgebrauch vieler Christen und Künstler für die beiden Verbrecher, die links und rechts von Jesus gekreuzigt wurden, bis heute gehalten, und greifen wir daher gerne auf. Erwähnenswert ist vielleicht an der Stelle, dass sowohl das Matthäusevangelium als auch das Markusevangelium schreiben, dass beide Übeltäter Jesus verspotteten. Nur Lukas differenziert und berichtet, dass einer der beiden Jesus verteidigte gegen die Verspottungen des anderen, und dass Jesus ihn darauf mit den Worten „heute wirst du mit mir im Paradies sein“ offensichtlich begnadigte. Es hat sich sogar das Fachwort „Schächergnade“ dafür in christlichen Kreisen eingebürgert für eine Gnade, die ein Mensch wenige Augenblicke vor seinem Tod erlangt, obwohl er sein ganzes Leben lang ein Schächer, ein Gauner, ein Übeltäter war. Das ist anscheinend eine Gnade, die völlig unabhängig von den Bemühungen des Menschen sind und auch Mördern gewährt wird. Auf den ersten Blick scheint die linke Seite damit ein schlagendes Argument zu haben, eine Art Lotto-Sechser, den Hauptgewinn.

Die rechte Seite hat aber Einwände. Erstens gibt sie zu bedenken, dass die anderen beiden Evangelien, die ebenfalls von dieser Szene berichten, nicht diesen einen begnadigten Schächer erwähnen (siehe oben), und dass diese anderen Evangelien aber jene waren, die ursprünglich für die Mission und Verkündigung des Evangeliums im Einsatz waren. Hinzu kommt zweitens, dass das „Hauptevangelium“ der linken Gnadenlehre, nämlich das Johannesevangelium, die beiden Schächer mit keinem Wort erwähnt und schon gar nicht den einen begnadigten Schächer, der das Hauptargument der linken Seite ist! Der Schwerpunkt, der seit wenigen Jahrhunderten auf diesen Schächer gelegt wird, verzerrt daher das ursprüngliche Bild und die Betonung auf eine Gnade, die ein Sonderfall ist, kein Regelfall und schon gar nicht einer, auf dem man eine Lehre aufbauen darf. So entstehen immer Irrlehren, wenn man kleines groß macht und großes klein, wenn man den Hintergrund in den Vordergrund rückt und den Vordergrund in den Hintergrund, wenn man Einzelfälle zur Regel und die Regel zum Einzelfall macht.

Drittens wendet die rechte Seite ein, dass auch in diesem kurzen Dialog bei Lukas zu erkennen ist, dass der begnadigte Schächer sich bemühte. Er tat etwas. Er verteidigte Jesus mutig gegen den anderen Schächer und gegen das ganze Volk, gegen die Soldaten, Schriftgelehrten und Priester, die unter dem Kreuz standen und allesamt Jesus laut verspotteten. Und er unterwarf sich dem König Jesus Christus. Er anerkannte seinen wahren König, während alle anderen ihn nur verachteten. Der Schächer ist also ein Lehrbeispiel dafür, dass man nicht mit den Wölfen heulen darf, dass man sich nicht der Mehrheitsmeinung anschließen darf, dass man nicht mit dem Strom schwimmen darf, sondern sich dagegen stellen und für den wahren König Jesus Christus eintreten muss, selbst wenn man der einzige ist und nur noch ein paar Atemzüge zu leben hat. Die rechte Seite erkennt also eine mutige und richtige Tat bei dem Schächer und damit hat er sich die Gnade Jesu verdient. Hätte der Schächer nichts getan und nichts gesagt, so hätte er diese Gnade nicht gewährt bekommen.

Viertens sieht die rechte Seite nicht nur den einen Schächer, sondern auch den anderen, der nicht Gnade bekam, denn der hatte sie nicht verdient. Er war in der selben Situation, aber er tat nicht dasselbe. Unterschiedliche Taten führten zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der eine bekommt Gnade, der andere nicht, und das hängt gerade auch in jener Geschichte von den Werken der beteiligten Menschen ab. In Wahrheit ist das Lieblingsargument der linken Seite also eines, das bei genauer Betrachtung gegen sie spricht, denn wer nichts tut oder das falsche tut, verdient keine Gnade und bekommt keine Gnade. Das sieht man am anderen Schächer. Das bringt uns zum nächsten Punkt.


Allein Gottes Werk für passive Menschen?

Gnade ist ...
eine Kooperation zwischen Gott und Mensch, beide sind aktiv

Die linke Seite glaubt, dass der Mensch nichts gutes von sich aus tun kann, sondern im Gegenteil alles, was der Mensch macht, böse ist. Nur Gott könne das Gute im Menschen vollbringen. Jeder menschliche Versuch, etwas Gutes zu tun, scheitert daher kläglich und steht sogar Gottes Wirken im Wege. Das beste sei es also, wenn der Mensch gar nichts mache sondern allein Gott an sich wirken lasse. Das Aufeinandertreffen vom inaktiven Mensch und dem alles wirkenden Gott, das sei Gnade. Martin Luther, der heute bekannteste und kompromissloseste Vertreter dieser Lehre, formulierte das so:

Hier verhält sich der Mensch rein passiv (wie man es bezeichnet), und tut auf keine Weise etwas, sondern „wird“ völlig, d. h, lässt ganz an sich geschehen. (Dr. Martin Luther, Vom unfreien Willen, Dezember 1525. Den Text kann man zum Beispiel hier online lesen.)

Im selben Schreiben spricht Luther sogar von einer passiven Notwendigkeit:

Denn man scheint sich einzubilden, dass der an sich gute oder wenigstens nicht böse Mensch von Gott die böse Handlung duldet, wenn man hört, dass wir sagen, Gott wirke in uns Gutes und Böses und wir seien in reiner passiver Notwendigkeit dem wirkenden Gott unterworfen. Sie bedenken nicht genügend, wie unaufhörlich bewegend Gott in allen seinen Geschöpfen wirkt und keines untätig sein lässt. Sondern so muss der es betrachten, wer überhaupt irgendwie derartiges verstehen will, dass Gott in uns, das heißt durch uns, das Böse wirkt nicht durch Verschulden Gottes, sondern infolge unseres Mangels, die wir von Natur böse sind. Gott ist aber wahrlich gut, der uns mit seinem Wirken entsprechend der Natur seiner Allmacht fortreißt, und nicht anders handeln kann, als dass er, der selbst gut ist, mit den schlechten Werkzeugen Böses tut, wenngleich er auch dies Böse seiner Weisheit entsprechend zu seiner Ehre und unserem Heil wohl anwendet. (Ebd.)

Martin Luther geht so weit, dass er behauptet, alles gute und böse, was der Mensch macht, macht der Mensch gar nichts selber, sondern Gott durch ihn. Wenn der Mensch ein schlechtes Werkzeug ist, dann kann Gott durch ihn nur schlechtes machen, obwohl Gott nur gut ist. Das führt automatisch zu einer Lehre, die den freien Willen abstreitet und als Lüge bezeichnet. Und es wirft die Frage auf, woher kommt die böse Natur des Menschen, wenn Gott doch nur gut ist und alles schuf? Dazu kommen wir noch.

Zuvor betrachten wir die Gegenseite. Sie lehrt, dass der Mensch von Gott so geschaffen wurde, dass er zu beidem fähig ist, zu gutem und zu bösem, es läge am Mensch, sich zu entscheiden was er tut, und Gott würde die Menschen dafür am Ende ewig belohnen oder bestrafen, je nach ihren Werken. Der Mensch darf also nicht passiv sein, sondern muss aktiv werden. Der Mensch muss sich seiner Verantwortung und Rechenschaft bewusst sein. Die rechte Seite verweist hier auf das Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift. Überall wird der Mensch aufgefordert aktiv zu werden und das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Es ist eigentlich egal, in welches Buch der Heiligen Schrift man sieht, überall steht diese Botschaft, überall ermahnt Gott die Menschen das Richtige zu tun. Ganz besonders aber macht das Jesus Christus:

„Geht ein durch die enge Pforte! Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der ins Verderben führt; und viele sind es, die da hineingehen. Denn die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenige sind es, die ihn finden.“ (Mt 7,13-14).

Das ist ein Aufruf Christi zur Aktivität. Noch deutlicher schreibt es Lukas:

Es sprach aber einer zu ihm: Herr, sind es wenige, die errettet werden?
Er aber sprach zu ihnen:
Ringt danach, durch die enge Pforte hineinzugehen! Denn viele, sage ich euch, werden hineinzugehen suchen und es nicht können. (Lk 13,23-24)

Auf die Frage, ob wenige errettet werden, antwortete Jesus also nicht: „Macht am besten gar nichts, bleibt passiv, und lasst die Gnade Gottes alles machen“ sondern „Ringt danach, durch die enge Pforte hineinzugehen!“ „Danach ringen“ ist das absolute Gegenteil von einer „passiven Notwendigkeit“. Wer erkennt den himmelhohen Unterschied zwischen den beiden Botschaften von Jesus Christus und Dr. Martin Luther?

Übrigens ist es schon sehr aufschlussreich, dass die Menschen, die jahrelang täglich mit Jesus zusammen waren und Ihn predigen hörten und Seinen Lebenswandel rund um die Uhr live sahen, überhaupt so eine Frage stellen, oder? Wer Jesus wirklich kennt, der fragt sich, ob wenige errettet werden. Der kommt gar nicht auf die Idee, dass es viele sein werden. So eindeutig war Jesu Lehre und Leben. Ebenso ist Jesu berühmter Ausspruch „Wer suchet der findet“ ein deutlicher Aufruf an die Menschen aktiv zu werden. Nur Suchende werden finden. Suchen ist ein aktiver Vorgang. Hingegen verurteilt und beklagt Gott alle Menschen, die sich passiv treiben lassen im Leben anstatt nach Gott zu fragen:

Der HERR schaut vom Himmel auf die Menschenkinder, um zu sehen, ob es einen Verständigen gibt, einen, der nach Gott fragt. Sie sind alle abgewichen, allesamt verdorben; es gibt keinen, der Gutes tut, auch nicht einen Einzigen! (Ps 14,2-3. 53,3-4)

Auch Martin Luther kannte diesen Psalm und lehrte ihn. Allerdings zog er eine andere Lehre daraus. Er verstand diesen Psalm so, als wäre er eine Art Bankrotterklärung Gottes, als würde Gott einsehen, dass die Menschen nichts gutes können, und dabei resignieren. Daher müsse Gott ab sofort alles Gute selbst machen und die Menschen gegen ihren Willen buchstäblich fernsteuern. Das werden wir noch näher beleuchten.

Vorerst noch weitere Einwände der rechten Seite:

Abgesehen davon, dass Jesus nie lehrte, dass die Menschen passiv sein sollen, sondern immer nur aktive Appelle an die Menschen richtete, wie oben gezeigt, gab Er auch seinen Jüngern ein Vorbild, das sie nachahmen sollten und gab ihnen einen Lehrauftrag: „lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe.“ (Mt 28,20)

Solche Befehle gibt man nicht, wenn man will, dass die Leute passiv werden. Solche Befehle gibt man, wenn man die Menschen zur Aktivität ermutigen will. „Lehren“ und „halten“ ist nicht passiv, sondern erfordert aktive Anstrengung. Und genauso verstanden es auch die Apostel. Wir müssen uns nur das Leben der Apostel ansehen: ist es ein Zeugnis der Passivität oder der Anstrengung und des Eifers? Alle Apostel lehrten unermüdlich praktisch Tag und Nacht ihre Schüler und unterwiesen sie in den Geboten Christi. Wenn Gott wollte, dass die Menschen passiv werden, dann hätte Er jedem Mensch einen Fernseher geschenkt und ihn den ganzen Tag davor gesetzt. Das wäre effektiver gewesen. Aber Er hätte nicht Propheten, Apostel und Lehrer in die Welt geschickt, die die Menschen durch ihr tadelloses Vorbild ermahnen und unterweisen und sie zu guten Werken anstacheln sollten. Wozu braucht es überhaupt eine Lehre, wenn ohnehin alles Gott macht? Wozu Ermahnung? Wozu Predigt? Wozu Bücher? Passivität muss man nicht lernen, dazu braucht es keine Meister und keine Vorbilder. Und schon gar nicht Märtyrer. Einer dieser Märtyrer ist Justin der Märtyrer. Er schrieb im 2. Jahrhundert:

Dagegen sind wir gelehrt worden und glauben fest, daß Er nur jene in Gnaden annimmt, die das Ihm innewohnende Gute nachahmen: Enthaltsamkeit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe und was sonst Gott eigentümlich ist, Ihm, der mit keinem Ihm erst beigelegten Namen benannt wird. (Justin, 1.Apologie X)

Nachahmen ist ein aktives Wort, kein passives. Paulus wiederholt immer wieder den Befehl, sein Nachahmer zu sein, zum Beispiel hier:

Seid meine Nachahmer, gleichwie auch ich [Nachahmer] des Christus bin! (1Kor 11,1 )

„Nachahmer von Paulus zu sein, ist das eine“, mögen jetzt manche einwenden, „aber ein Nachahmer Gottes zu sein, ist das nicht zu viel verlangt? Schießt da Justin nicht weit über das Ziel hinaus? Ist das nicht bereits eine Irrlehre?“ Nun, Justin hat sich das nicht ausgedacht. Achtet genau darauf, woher Justin diese Lehre hat. Er sagt: „wir sind gelehrt worden …“. Er spricht von sich und seinen Brüdern, die ebenfalls Lehrer und Leiter in den Gemeinden des zweiten Jahrhunderts waren. Gemeinden, die ein paar Jahrzehnte davor von den Aposteln gegründet wurden und dann an die nächste Generation von Leitern übergeben wurden. Von wem kommt die Lehre also? Von den Aposteln! Und so schrieb Apostel Paulus selbst an die Epheser:

Werdet nun Gottes Nachahmer als geliebte Kinder und wandelt in der Liebe, gleichwie auch Christus uns geliebt und sich selbst für uns gegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, zu einem lieblichen Geruch für Gott.
Unzucht aber und alle Unreinheit oder Habsucht soll nicht einmal bei euch erwähnt werden, wie es Heiligen geziemt; auch nicht Schändlichkeit und albernes Geschwätz oder Witzeleien, die sich nicht gehören, sondern vielmehr Danksagung.
Denn das sollt ihr wissen, dass kein Unzüchtiger oder Unreiner oder Habsüchtiger (der ein Götzendiener ist), ein Erbteil hat im Reich des Christus und Gottes.
Lasst euch von niemand mit leeren Worten verführen! Denn um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Söhne des Ungehorsams.
So werdet nun nicht ihre Mitteilhaber!
Denn ihr wart einst Finsternis; jetzt aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts!
Die Frucht des Geistes besteht nämlich in lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.
Prüft also, was dem Herrn wohlgefällig ist, und habt keine Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, deckt sie vielmehr auf; denn was heimlich von ihnen getan wird, ist schändlich auch nur zu sagen.
Das alles aber wird offenbar, wenn es vom Licht aufgedeckt wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht.
Darum heißt es: Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, so wird Christus dich erleuchten!
Seht nun darauf, wie ihr mit Sorgfalt wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise; und kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse.
Darum seid nicht unverständig, sondern seid verständig, was der Wille des Herrn ist!
Und berauscht euch nicht mit Wein, was Ausschweifung ist, sondern werdet voll Geistes; redet zueinander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern; singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen; sagt allezeit Gott, dem Vater, Dank für alles, in dem Namen unseres Herrn Jesus Christus; ordnet euch einander unter in der Furcht Gottes! (Eph 5,1-21)

Daher hat das Justin! Wir haben in der Schrift also nicht nur den eindeutigen Befehl, Nachahmer Gottes zu werden, sondern auch eine lange Liste, wie Christen das praktisch tun sollen. Es ist eine Liste für aktive Menschen, nicht für passive. Nachahmen findet in einer Kooperation statt: der eine macht vor, der andere ahmt nach. Beide Seiten tun etwas. Gott zeigt dem Mensch die guten Dinge und wie sie zu tun sind, und der Mensch ahmt Gott nach. Das ist für die rechte Seite der Weg zur Gnade Gottes.

Und Paulus warnt „Lasst euch von niemand mit leeren Worten verführen!“ Damit meint er genau jene Worte der damals schon umherziehenden Irrlehrer, die behaupteten, der Mensch könne nichts gutes tun und solle daher auch nichts gutes tun, sondern sich passiv verhalten und Gott alles machen lassen. Diese Leute waren Gnostiker, die damals schon den apostolischen Gemeinden hart zusetzten und viele verführten. Genau dagegen schrieb Paulus das Gegenprogramm. Hier und in vielen anderen Kapiteln, auch in anderen Briefen. Wer das nicht tut, sei kein Christ. Und das lehrte auch im nächsten Jahrhundert noch Justin:

Die nun, deren Lebenswandel nicht so befunden wird, wie Er gelehrt hat, sollen nicht als Christen angesehen werden, auch wenn sie mit der Zunge die Lehre Christi bekennen; denn Er hat gesagt, daß nicht die, welche bloß sprechen, sondern die, welche auch die Werke vollbringen, zur Seligkeit gelangen werden, Er sprach nämlich also: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist. Denn wer mich hört und tut, was ich sage, hört auf den, der mich gesandt hat. Viele werden zu mir sagen: Haben wir nicht in deinem Namen gegessen und getrunken und Wunder gewirkt? Und dann werde ich zu ihnen sprechen: Weichet von mir, ihr Übeltäter. Dann wird Heulen und Zähneknirschen sein, wenn die Gerechten leuchten wie die Sonne, die Ungerechten aber ins ewige Feuer geworfen werden. Denn viele werden kommen in meinem Namen, die äußerlich in Schafspelze gekleidet, innerlich aber reißende Wölfe sind; an ihren Werken werdet ihr sie erkennen. Jeder Baum aber, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen“.
Daß aber solche, die nicht Seinen Lehren entsprechend leben und nur Christen heißen, gestraft werden, das verlangen wir auch von euch. (Justin, 1.Apologie XVI)

Die rechte Seite hat also eine klare Vorstellung gelehrt bekommen, was alles aktiv zu tun ist, und spricht der linken Seite, die ein passives Christentum lehrt, eigentlich ab, Christen zu sein. Umgekehrt genauso. Auch Luther sprach allen, die nicht seiner Lehre zustimmten, das Christsein ab. Das führt uns direkt zum nächsten Punkt.


Unvereinbar mit dem freien Willen?

Gnade ist ...
in absoluter Harmonie mit dem freien Willen

Martin Luther schrieb dazu:

Es ist nicht unfromm, neugierig oder überflüssig, sondern ganz besonders heilsam und notwendig für den Christen zu wissen, ob der eigene Wille etwas oder nichts tun kann in den Dingen, die zum Heil gehören. Ja das ist, damit Du im Bilde bist, sogar der Angelpunkt unserer Disputation, hier liegt der Kern dieser Sache. Denn darauf sind wir aus, dass wir untersuchen, was der freie Wille vermag, was er zulässt, wie er sich zur Gnade Gottes verhält. Wenn wir das nicht wissen, wissen wir rein gar nichts von den Angelegenheiten der Christen und werden schlimmer sein als alle Heiden. Wer das nicht empfindet, gesteht damit ein, dass er kein Christ sei, wer aber das tadelt und verachtet, möge wissen, dass er der größte Feind der Christen ist. (Dr. Martin Luther, Vom unfreien Willen, Dezember 1525)

Für Luther ist die Frage, ob es einen freien Willen des Menschen gibt oder nicht, also heilsnotwendig und er geht sogar soweit, dass er sagt, dass alle, die das nicht so empfinden, keine Christen sind, und jene, die das tadeln, sogar die größten Feinde der Christen sind. Was hat das aber mit unserem Thema Gnade zu tun? „Hier liegt der Kern dieser Sache“, sagte Luther oben. Im selben Brief verrät er seine Strategie:

… so dass wir zunächst die Argumente widerlegen, welche für den freien Willen beigebracht werden, alsdann verteidigen, was von den unseren bestritten wird und schließlich gegen den freien Willen für die Gnade Gottes kämpfen. (Ebd.)

Gnade und freier Willen schließen einander aus, lehrt Martin Luther. Wer das eine predige, kämpfe gegen das andere und bestreite es. Genau zu diesem Zwecke schrieb Martin Luther den langen Brief „Vom unfreien Willen“ an Erasmus von Rotterdam. Dieses Werk, das ein ganzes Buch füllt, gilt bis heute als Standardwerk für Lutheraner, weil Luther darin seine Lehre ausführlich darlegt und kompromisslos alle anderen Ansichten mit aller Gewalt in den Boden stampft. Wir haben hier nicht den Platz, Luthers Argumente gegen den freien Willen ausführlich auszubreiten (er brauchte im genannten Brief selbst dafür mehr als 36.000 (sechsunddreißigtausend) Wörter!). Hier sei nur so viel festgehalten: das linke Gnadenverständnis steht und fällt mit der Behauptung, dass der Mensch keinen freien Willen hat. Das ist der Kern der Sache, wie Luther selbst sagt. Das muss man verstanden haben. Die Gnade auf der linken Seite braucht zwingend den unfreien Willen des Menschen (und übrigens auch der Engel, wie Luther ausführt), denn es kann entweder nur der freie Wille oder die Gnade Gottes in den Menschen wirken.

Abgesehen davon ist der freie Wille an sich bei allen Menschen das Reich des Satans. (Ebd.)
Umgekehrt, wenn Gott in uns wirkt, will und handelt andererseits der durch den Geist Gottes gewandelte und freundlich eingeblasene Wille wiederum aus reiner Lust und Neigung, so dass er durch nichts Entgegengesetztes in etwas anderes verwandelt werden, ja nicht einmal durch die Pforten der Hölle besiegt oder gezwungen werden kann. Sondern er fährt fort das Gute zu wollen, gern zu haben und zu lieben, so wie er vorher das Böse wollte, gern hatte und liebte. Das beweist wiederum die Erfahrung, Denn wie unüberwindlich und standhaft sind die heiligen Männer, während sie mit Gewalt zu anderem gezwungen werden sollen. Ja, sie werden dadurch noch mehr zum Wollen angespornt, so wie das Feuer vom Wind mehr angefacht als ausgelöscht wird. So dass auch hier nicht irgendeine Freiheit oder ein freier Wille, sich anders wohin zu wenden oder anders zu wollen existiert, solange der Geist und die Gnade Gottes im Menschen andauert. (Ebd.)

Luther lehrt also, dass der Mensch unfrei ist. Er wird entweder vom Teufel geritten oder von Gott. Wenn die Gnade Gottes im Mensch andauert, hat er keinen freien Willen. Der Mensch selbst kann das nicht bestimmen, er ist fremdbestimmt:

So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt (zwischen Gott und Satan) wie ein Zugtier. Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will, wie der Psalm (73, 22 f) sagt: „Ich bin wie ein Tier geworden und ich bin immer bei dir“. Wenn Satan sich darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu besitzen. (Ebd.)

Die rechte Seite lehrt und verteidigt dagegen vehement den freien Willen des Menschen und hat daher ein völlig konträres Verständnis von Gnade. Gnade ist dort nicht der Zwang, das zu tun was Gott diktiert, sondern eine Kooperation mit Gott. Gnade ist, wenn der freie Wille und das Bemühen des Menschen mit der Kraft und Erkenntnis Gottes zusammenarbeiten. Ein Mensch fragt freiwillig nach Gottes Wille, ordnet sich Ihm unter, und gehorcht Ihm aus freien Stücken und Gott hilft im Gegenzug dann diesem Mensch, das Richtige zu erkennen und zu tun. Der freie Wille ist das Grundprinzip von Gottes Liebe und Gerechtigkeit schlechthin. Und so hat der Mensch auch die Freiheit, Gott zu ignorieren und sich Gottes Geboten zu widersetzen. So wie das schon Eva tat, die lieber auf die Schlange hörte, und wie es Adam tat, der lieber auf Eva hörte anstatt auf Gott. Weder Gott noch der Satan standen mit gezücktem Messer hinter Adam und Eva und zwangen sie zu irgendetwas. Auch wurden sie von niemand geritten. Eva war nicht das Reittier der Schlange. Die ersten Menschen sündigten völlig freiwillig aus eigener Entscheidung. Und genauso geschieht es bei allen anderen Menschen (und übrigens auch Engeln) bis heute: sie haben die freie Wahl – und damit aber auch die alleinige Verantwortung für ihre Entscheidungen und Taten. Alle frühen Christen lehrten das, alle Propheten, und die Apostel sowieso. Alle Stellen hier anzuführen, würde den Rahmen noch mehr sprengen, als Luther ausführlich zu zitieren. Hier wiederum Justin der Märtyrer als Sprecher der rechten Seite:

Es hat uns aber dieses der heilige prophetische Geist gelehrt, der durch Moses bezeugt, Gott habe zu dem ersten Menschen, den er gebildet hatte, also gesprochen: „Siehe, vor deinem Angesichte liegt das Gute und das Böse, wähle das Gute!“ Und wiederum ist durch Isaias, den andern Propheten, in der Person Gottes, des Allvaters und Herrn, in gleichem Sinne folgendes gesagt worden: „Waschet euch, werdet rein, schaffet die Bosheiten fort aus euren Seelen, lernet Gutes tun, schaffet Recht der Waise und laßt Recht widerfahren der Witwe, und dann kommt und wir wollen miteinander verhandeln, spricht der Herr. Und wenn eure Sünden sind wie Purpur, ich werde sie weiß machen wie Wolle, und wenn sie sind wie Scharlach, ich werde sie weiß machen wie Schnee. Und wenn ihr wollt und auf mich hört, so sollt ihr das Beste des Landes essen; hört ihr aber nicht auf mich, so wird das Schwert euch verzehren; denn der Mund des Herrn hat dies gesprochen.“ (1.Apologie XLIV)
Aber weil Gott das Geschlecht der Engel und das der Menschen ursprünglich mit einem freien Willen ausgestattet hat, werden sie mit Recht für ihre Sünden in ewigem Feuer gestraft werden. Und das ist das Wesen alles Geschaffenen, daß es von Natur zu Schlechtigkeit und Tugend fähig ist; es wäre ja auch keines davon des Lobes wert, wenn es nicht auch die Fähigkeit hätte, sich dem einen wie dem anderen zuzuwenden. Das beweisen auch jene Männer, die in den verschiedenen Ländern nach der wahren Vernunft Gesetze gegeben oder Forschungen angestellt haben, indem sie das eine zu tun, das andere zu lassen gebieten. (Justin, 2.Apologie VI)
Und wir sind ferner gelehrt worden, daß Er im Anfange, weil Er gut ist, alles aus formloser Materie der Menschen wegen erschaffen hat; wir haben die Überlieferung, daß diese, wenn sie sich nach seinem Ratschlusse in Werken dessen wert erweisen, des Umganges mit Ihm gewürdigt werden und mit Ihm gemeinsam herrschen, nachdem sie unvergänglich und leidenlos geworden sind. Denn so gewiß Er sie im Anfange, als sie nicht waren, geschaffen hat, ebenso gewiß werden, so glauben wir, die, welche das Ihm Wohlgefällige erwählen, wegen dieser Wahl der Unsterblichkeit und des Zusammenwohnens mit ihm gewürdigt werden.
Denn daß wir im Anfange ins Dasein gerufen wurden, war nicht unser Verdienst; daß wir aber dem nachstreben, was Ihm lieb ist, indem wir es mit Vernunftkräften, die Er selbst uns schenkte, frei wählen, dazu leitet Er uns an und dazu führt Er uns zum Glauben.
Und wir meinen, daß es im Interesse aller Menschen liegt, daß sie von der Erkenntnis dieser Dinge nicht abgehalten, vielmehr zu ihr hingeführt werden. (Justin, 1.Apologie X)

Da Gott den Mensch zu beidem fähig schuf, zu Gutem und Bösem, liegt die freie Wahl tatsächlich allein beim Menschen. Und wenn der Mensch das Gott Wohlgefällige wählt und tut, erweist er sich Gottes Gnade würdig, und dann hilft ihm Gott in allen Dingen und wird am Ende mit ihm zusammenwohnen.

Woher kommt aber die Idee des unfreien Willens? Dazu müssen wir noch einen Schritt in die Tiefe gehen.


Vorherbestimmt?

Gnade ist ...
nicht vorherbestimmt

Martin Luther lehrte, wie im vorigen Kapitel ausgeführt, dass der Kern des Christentums darin bestehe, über den unfreien Willen Bescheid zu wissen. Das sei heilsnotwendig, denn davon hänge die Gnade ab. Diese Lehre Luthers schwebt nicht im luftleeren Raum, sondern er stellte sie auf ein uraltes Fundament: der Lehre der schicksalshaften Notwendigkeit. Das zu wissen, sei der andere Teil der Summe des Christentums, wie Luther selbst formuliert:

Der andere Teil der Summe des Christentums ist es, zu wissen, ob Gott irgend etwas zufällig vorherweiß, oder ob wir alles unter dem Zwang der Notwendigkeit tun. (Dr. Martin Luther, Vom unfreien Willen, Dezember 1525)

Diesen „Zwang der Notwendigkeit“ nannte Luther Prädestination, auf Deutsch Vorherbestimmung. Demnach bestimme Gott alles was auf der Welt geschieht im Voraus. Das führt zwangsläufig zu der Lehre, dass es keinen freien Willen gäbe und dass der Mensch sein Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen könne, sondern dass alles von Gott vorherbestimmt und mit Zwang ausgeführt werde. Luther drückte das so aus:

Alles, was wir tun, alles was geschieht, wenn es uns auch veränderlich und zufällig zu geschehen scheint, geschieht dennoch tatsächlich zwangsnotwendig und unwandelbar, wenn Du den Willen Gottes ansiehst. (Ebd.)

Mit „unwandelbar“ meinte Luther, dass weder Mensch noch Gott etwas daran ändern kann. Es ist vorherbestimmt. Das Schicksal ist unwandelbar, unveränderlich, unabwendbar. Es geschieht alles so – und nur so – wie Gott es vor Erschaffung der Welt vorherbestimmte. Den Beweis für seine Lehre holt sich Luther von den alten Griechischen Dichtern:

Dieser Dichter tut nichts anderes, als dass er an der Zerstörung Trojas und der Errichtung des römischen Reiches aufzeigt, dass das Schicksal mehr vermag als die Anstrengungen aller Menschen und so das Gesetz der Notwendigkeit den Dingen wie den Menschen auferlegt. Schließlich unterwirft er auch seine unsterblichen Götter dem Schicksal, dem sie notwendig weichen, auch Jupiter selbst und Juno. Von da her haben sie ersonnen, jene drei Parzen, unwandelbar, unversöhnlich, unerbittlich. (Ebd.)

Und Luther stützt sich auf Sprichwörter und das Wissen des einfachen Volkes:

Darum ist als Sprichwort in aller Munde: „Was Gott will, das geschehe“, ebenso: „so Gott will, wollen wir es tun“. Ebenso sagt Vergil: „So hat Gott es gewollt, so hat es den Göttern gefallen, so habt ihr es gewollt“. So sehen wir, dass im einfachen Volk nicht minder das Wissen um die Vorherbestimmung und das Vorherwissen Gottes geblieben ist, als die Gottesvorstellung selbst. Aber die, die weise scheinen wollten, sind durch ihre Überlegungen davon abgekommen, bis sie verblendeten Herzens Narren wurden (Röm. 1, 21 f) und leugneten oder in Abrede stellten das, was die Dichter und das einfache Volk und auch ihr eigenes Gewissen für das Vertrauteste, Gewisseste und Wahrste halten. (Ebd.)

Die Weisheit der antiken griechischen Dichter und des einfachen Volkes sind also für Luther richtungsweisend. Dagegen verhöhnt er alle Weisen, die das anders sehen.

Tatsächlich hatten die alten Griechen eine ausgeprägte Vorstellung vom Schicksal, das sie auch „Verhängnis“ nannten. Und sie hatten eigene Schicksalsgöttinnen, die drei Moiren, die unbestechlich und unbeirrbar das Schicksal aller Menschen (und Götter!) vorherbestimmten. Diesem Verhängnis war alles unterworfen und keiner konnte etwas dagegen unternehmen, nicht einmal der mächtige Göttervater Zeus. Diese Mythologie übernahmen die Römer von den Griechen und änderten nur die Namen. Aus den Moiren machten die Römer die Parzen (siehe Lutherzitat) und aus dem Göttervater Zeus machten sie Jupiter (siehe Lutherzitat). Die Juno der Römer (erwähnt Luther ebenfalls und führt sie als Zeugin seiner Argumente an) entspricht der Hera bei den Griechen. Sie ist die Gattin des Göttervaters, und damit die Himmelskönigin und aber genauso dem Schicksal machtlos ausgeliefert wie ihr Göttergatte und alle anderen Götter.

Auch den frühen Christen waren die griechischen Mythenerzähler und der davon geprägte Volksglaube bestens bekannt. Doch sie verurteilten das alles als Aberglaube und grenzten sich davon scharf ab:

Damit aber niemand aus dem vorher von uns Gesagten den Schluß ziehe, wir behaupten, daß das, was geschieht, nach der Notwendigkeit des Verhängnisses geschehe, weil wir ja vorhin bemerkten, es sei vorhergewußt, so wollen wir auch diese Schwierigkeit lösen.
Daß die Strafen und Züchtigungen wie auch die Belohnungen nach dem Werte der Handlungen eines jeden zugeteilt werden, darüber sind wir von den Propheten belehrt worden und verkünden es als wahr. Wenn das nicht der Fall wäre, sondern alles nach einem Verhängnisse geschähe, so gäbe es gar keine Verantwortlichkeit; denn wenn es vom Schicksale bestimmt ist, daß dieser gut und jener schlecht ist, so ist der eine so wenig zu loben als der andere zu tadeln.
Und wiederum: Wenn das Menschengeschlecht nicht das Vermögen hat, aus freier Wahl das Schändliche zu fliehen und sich für das Gute zu entscheiden, so ist es unschuldig an allem, was es tut. Daß es aber nach freier Wahl sowohl recht als auch verkehrt handelt, dafür führen wir folgenden Beweis. Man sieht ein und denselben Menschen den Übergang zum Entgegengesetzten machen; wenn es ihm aber vom Schicksale bestimmt wäre, daß er entweder schlecht oder gut ist, so wäre er niemals empfänglich für das Entgegengesetzte und ändert sich nicht so oft. Aber es wären auch nicht einmal die einen gut, die andern schlecht; denn wir müßten sonst erklären, daß das Verhängnis die Ursache des Guten und des Bösen sei und sich selbst widerspreche, oder wir müßten jenen früher erwähnten Satz für wahr halten, daß Tugend und Laster nichts seien, sondern nur nach der subjektiven Meinung das eine für gut, das andere für schlecht gehalten werde; das wäre aber, wie die wahre Vernunft zeigt, die größte Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit.
Wir sehen vielmehr das unentrinnbare Verhängnis darin, daß denen, die das Gute wählen, die entsprechende Belohnung und ebenso denen, die das Gegenteil wählen, die entsprechende Strafe zuteil wird. Denn nicht wie die übrigen Wesen, z. B. die Bäume und die Vierfüßler, die nichts nach freier Wahl zu tun vermögen, hat Gott den Menschen geschaffen; auch verdiente er weder Strafe noch Lohn, wenn er nicht aus sich das Gute wählte, sondern dazu geboren wäre, und ebenso könnte ihn nicht, wenn er böse wäre, mit Recht Strafe treffen, da er nicht aus sich so wäre, sondern nichts anderes sein könnte, als wozu die Natur ihn gemacht hätte. (1.Apologie XLIII)

Justin bringt es auf den Punkt. Nichts ist vorherbestimmt, nichts ist dem Verhängnis, das die Griechischen Philosophen erfunden haben, unterworfen, sondern alles hängt vom freien Willen der Menschen ab. Jeder Mensch bestimmt frei über sein Schicksal. Als Beweis führt Justin die Praxis an: wir sehen, dass Menschen sich ändern. Manche bösen Menschen werden gut und manche guten werden böse im Laufe ihres Lebens. Jeder Mensch kann also die Seiten wechseln. Das wäre nicht möglich, wenn es ein festgelegtes Schicksal gäbe, das die einen zu guten und die anderen zu bösen Menschen vorherbestimmt hätte. Die Heilige Schrift ist voll davon, dass Menschen sich ändern, zu beiden Seiten. Ändert man sich in Richtung böse, nennt das die Schrift Abfall, ändert man sich in Richtung gut, nennt sie das Bekehrung und Buße. Und immerhin hat Jesus gesagt, dass Er gekommen sei, um die Sünder zur Buße zu rufen. Das wäre ein nutzloses Unterfangen, wenn es ein festgelegtes Schicksal gäbe.

Aber Justin kennt schon auch ein unentrinnbares Verhängnis. Das aber ist am Ende das gerechte Gerichtsurteil Gottes und hängt aber völlig von der freien Willensentscheidung des Menschen ab, nämlich welchen Weg er wählte und wie er demzufolge sein Leben lebte. Der freie Wille ist die Grundlage von Gottes Gerechtigkeit. Vorherbestimmt ist dabei gar nichts, außer die Konsequenzen, je nach Wahl des Menschen.

Das Thema der Vorherbestimmung ist ein so großes, dass es einen eigenen Beitrag verdient hätte. Jeder frühchristliche Apologet schrieb darüber, weil die römisch-griechische Kultur davon geprägt war. Sie alle zu zitieren ist hier nicht der Platz. Hier soll nur gezeigt werden, wie für die linke Gnadenlehre am Ende bei der griechischen Mythologie landet und sich derem Verhängnisgedanken bedient. Das taten schon im ersten Jahrhundert gewisse „Christen“. Sie vermischten die griechischen Philosophien mit Worten der Apostel und konstruierten so eine neue Lehre, die im Volk großen Anklang fand, weil sie altes Gedankengut mit neuem, aufregenden belebte. Diese neue Lehre nannten sie „Gnosis“ (Erkenntnis). Das geschah schon zu Lebzeiten der Apostel. Paulus schrieb viel gegen die Gnostiker und auch Johannes und Petrus teilten verbale Hiebe gegen diese Irrlehre aus. Besonders starken Aufwind bekam die Gnosis aber erst nach dem Tod der Apostel im zweiten Jahrhundert. Von da an finden wir jede Menge Bücher der frühen Christen gegen alle Sorten von Gnostikern, damit die christlichen Gemeinden nicht deren verführerischen Worten und Lehren in die Falle gingen. Das zeigte ein paar Jahrhunderte lang in den Gemeinden Wirkung bis zur Konstantinischen Wende, wo plötzlich alles anders wurde. Erstmals wurden Gnostiker mit dem christlichen Lehramt betraut. Einer von ihnen war ein gewisser Augustinus. Der Augustinermönch Martin Luther schreibt über ihn:

der freie Wille sei zu nichts fähig außer zum Sündigen, Dies aber ist die Meinung Augustins, wie er sie an vielen anderen Stellen äußert, insbesondere jedoch in, seiner Schrift „Über den Geist und den Buchstaben“, wenn ich nicht irre, im vierten oder fünften Kapitel, wo er gerade jene Worte gebraucht. Jene dritte, härteste Meinung ist diejenige Wiclifs und Luthers selbst, dass der freie Wille eine leere Bezeichnung sei und dass alles, was geschehe, aus reiner Notwendigkeit erfolge. (Dr. Martin Luther, Vom unfreien Willen, Dezember 1525)

Falls jemand glauben sollte, dass Luther nicht einverstanden sei mit Augustinus, stellte Luther sofort klar, dass das alles eine und die selbe Lehre sei und auch er sie vertrete:

Aber ich rufe Gott zum Zeugen an, ich habe nichts anderes sagen, noch etwas anderes unter der Formulierung der beiden zuletzt genannten Ansichten verstanden wissen wollen, als das, was in der ersten Meinung gesagt ist. Ich glaube auch nicht, dass Augustin etwas anderes gewollt hat, noch ersehe ich etwas anderes aus seinen eigenen Worten, als was die erste Meinung aussagt, so dass die drei von der Diatribe aufgezählten Meinungen (zusammen) bei mir nichts anderes ergeben, als eben jene meine einzige Ansicht. (Ebd.)

Damit wäre dokumentiert, wie die gnostische Irrlehre der Vorherbestimmung, des Schicksals, des unfreien Willens und der Gnade über Augustinus zu Luther und von dort ins Christentum eindringen konnte. Luther fügte in die alte griechische Philosophie bloß ein paar neue christliche Vokabel ein und machte sie so für das Christentum fit. Genauso wie das schon die Gnostiker eineinhalb Jahrtausende vorher taten. Es gäbe noch viel darüber zu schreiben und man könnte noch viele Textzeugen ins Treffen führen, die das Bild erhärten. Für hier und jetzt reicht das Gesagte. Kommen wir zur Frage der Unverlierbarkeit.


Unverlierbar?

Gnade ist ...
verlierbar

Wenn man meint, dass Gnade vorherbestimmt sei und aus einem Zwang der Notwendigkeit geschehe, also Schicksal ist, dann erscheint es nur konsequent, dass sie unverlierbar sein muss. Denn das Schicksal ändert sich nicht, es geht nicht verloren, sondern tritt todsicher ein. Und dann ergibt auch der unfreie Wille einen Sinn. Alles läuft nach Plan, nichts und niemand kann etwas daran ändern. Das nennt die linke Seite Gnade.

Die rechte Seite hat viele Einwände dagegen.

Erstens wurden die meisten schon genannt, siehe oben.

Zweitens bleibt zum Beispiel die Frage offen, warum dann überhaupt Bücher geschrieben und Propheten und Lehrer in die Welt gesandt werden? Warum muss man den Leuten überhaupt irgendetwas erzählen oder gar erklären, wenn ohnehin alles unverrückbar nach Plan abläuft und kein Mensch etwas daran ändern kann? In Wahrheit schaffen sich die linken Lehrer mit ihrer eigenen Lehre ab. Denn auch sie ändern mit ihrer Lehre nichts an einem ewigen, göttlichen, vorherbestimmten Schicksal, wenn es das gäbe. Eine Philosophie, die mit sich selbst im Widerspruch steht, ist eine falsche, eine Irrlehre. Das hatte übrigens Justin, der selbst Philosoph war und alle griechischen Philosophien studierte, dazu bewogen, sich näher mit dem Christentum zu beschäftigen, denn die Griechen glänzten eher durch widersprüchliche Torheit als durch Weisheit. Justin suchte die eine, wahre Philosophie, die wirkliche Weisheit und landete über viele Irrwege bei einem guten, richtigen christlichen Lehrer und lernte dort die Wahrheit kennen. Seither ist er ein überzeugter Verteidiger des wahren Christentums gewesen und nahm es mit allen Philosophen auf um ihnen ihre Irrtümer aufzuzeigen. Wir empfehlen daher allen Lesern die 1.Apologie und  2.Apologie von Justin dem Märtyrer, die wir unlängst in einem Buch herausbrachten. Dort berichtet Justin, wie und warum er Christ wurde und zerlegt in vielen Argumenten die Irrlehren seiner Zeit. Würde er noch so gelesen und gelehrt werden wie zu seiner Zeit, hätten all diese Irrlehren auch heute keine Chance ins Christentum einzudringen.

Drittens: So wie Lehrer keinen Sinn machen, wenn alles unveränderlich nach einem fixen Plan abläuft, so machen auch Ermahnungen und Drohungen und Belehrungen keinen Sinn, wenn die Gnade unverlierbar wäre. Die Schrift ist aber voll von diesen Belehrungen, Drohungen und Ermahnungen, im Alten wie im Neuen Testament.

Viertens: Gibt es so etwas wie Unverlierbarkeit überhaupt? Viele Menschen sagen, das größte Geschenk überhaupt sei das Leben. Wir sagen, wenn eine Frau ein Kind zur Welt bringt, sie hätte ihm das Leben geschenkt. Aber ist es unverlierbar? Die rechte Seite findet den Gedanken, dass etwas unverlierbar sei, völlig absurd und träumerisch. Denn alles kann verloren gehen auf dieser Welt, speziell auch das Leben selbst. Jeder kann jeden Augenblick sein Leben verlieren. Das Leben ist tatsächlich ein unverdientes Geschenk, doch jeder kann es verlieren und wird es am Ende auch wieder verlieren. Deswegen sprechen auch manche davon, dass das Leben kein Geschenk sei, sondern nur eine Leihgabe. Aber warum sollte es mit Gnade anders sein? Überhaupt, wo doch alles auf der Welt nur geliehen ist und wieder verloren gehen kann: Leben, Eigentum, Besitz, Kinder, Job, Karriere, Ehre, Ruhm, Friede, Freude, Sicherheit, Freundschaften, Gesundheit, Freiheit und so weiter. Egal ob man materielle oder ideelle Dinge betrachtet, sie alle können verloren gehen und gehen auch verloren irgendwann. Viele Menschen haben auch schon ihren Glauben, ihre Liebe und ihre Hoffnung verloren, obwohl sie vorher glaubten, diese drei würden ewig halten.

Wenn Gott nur unter bestimmten Bedingungen Gnade gewährt, dann nimmt Er die Gnade auch wieder zurück, wenn die Bedingungen nicht mehr erfüllt sind. Jesus brachte das in vielen Reden und Gleichnissen zum Ausdruck. Zum Beispiel in dem Gleichnis von dem König, der einem Knecht eine große Schuld erließ (Luther nannte ihn Schalksknecht). Der Knecht war danach aber hartherzig und ungnädig zu seinem Mitknecht. Als der König davon erfuhr, nahm er seine Gnade wieder zurück und warf den Knecht wieder ins Gefängnis. Dieses Gleichnis lehrt uns über das Königreich Gottes, wie Gott tickt und mit Gnade umgeht. Deswegen erzählte es Jesus. Nachzulesen ist dieses Gleichnis im Matthäusevangelium Kapitel 18. Und Jesus verwies ständig auf die Früchte. Sehen wir sie uns also an.


Die Früchte der beiden Seiten

Nun wird es endlich Zeit, dass wir uns die Früchte der beiden Lehren ansehen, denn „an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“, lehrte Jesus Christus.

Welche Früchte bringt ein Christentum, das an ein vorherbestimmtes, unwandelbares Schicksal glaubt, und an einen unfreien Willen, sodass kein Mensch etwas gutes oder böses freiwillig tut, sondern immer nur das, wozu er von Gott zwangsweise geritten wird? Und was hat das für eine Auswirkung auf das Verständnis von Gnade?

Hier ist – wie so oft – ein Blick in die Kirchengeschichte sehr aufschlussreich. Man vergleiche die Lutheraner mit den frühen und den späten Christen und alle miteinander mit den Gnostikern. Das wäre sehr spannend und würde ein eigenes Buch füllen. Machen wir es aber hier lieber kurz und fragen wir Martin Luther, der selbst mit dieser Frage von Erasmus konfrontiert wurde und diesem folgendes antwortete:

Wer, sagst Du, wird sich ernstlich bemühen, sein Leben zu bessern? Darauf antworte ich: Kein einziger Mensch. Und keiner wird auch (von sich aus) dazu imstande sein denn Deine sogenannten „Verbesserer“, die ohne den Geist Gottes sind, interessieren Gott gar nicht, weil sie Heuchler sind Die Auserwählten und die Frommen aber werden durch den heiligen Geist gebessert werden, die übrigen werden ungebessert zu Grunde gehen. Denn Augustin sagt nämlich auch nicht, dass keines oder aller Menschen gute Werke belohnt werden, sondern: „einiger“, so dass es nicht gar keiner sein wird, der sein Leben besserte. 
Wer wird glauben, sagst Du, dass er von Gott geliebt werde? Darauf antworte ich: kein einziger Mensch wird es glauben, und keiner wird auch (von sich aus) dazu imstande sein. Die Auserwählten aber werden es glauben die übrigen werden ohne zu glauben untergehen, zornig und Gott lästernd, so wie Du es hier tust. Deshalb wird es nicht gar keiner sein, der es glaubte. Was aber nun das betrifft, dass durch diese Lehren der Gottlosigkeit Raum eröffnet wird, so sei es so. Jene mögen zu dem Aussatz gehören. von dem oben gesagt wurde, dass er das zu ertragende Übel sei. (Dr. Martin Luther, Vom unfreien Willen, Dezember 1525)

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie diese offenen und direkten Worte von Luther lesen. Sie zeigen aber genau das Christentum, das Luther hervor brachte. Und Luther gibt das Dilemma seiner Gnadenlehre ehrlich zu:

Im Licht der Gnade ist es unlösbar, wie Gott den verdammen kann, der aus seinen eigenen Kräften nichts anderes tun kann, als sündigen und schuldig werden. Hier sagen sowohl das Licht der Natur, wie das Licht der Gnade, dass die Schuld nicht des armen Menschen, sondern des ungerechten Gottes sei. Denn sie können nicht anders über Gott urteilen, der den gottlosen Menschen umsonst ohne Verdienste krönt, und einen anderen nicht krönt, sondern verdammt, der vielleicht weniger oder wenigstens nicht mehr gottlos ist. (Ebd.)

Luthers Lehre führt also zu einem ungerechten und bösen Gott. Es sind exakt die selben Früchte der Gnostiker und der Griechischen Mythologie: sie haben ungerechte, böse Götter, die willkürlich machen was sie wollen und nur mit den Menschen herumspielen. Der Mensch hat keinen Einfluss darauf und fühlt sich von den Göttern überhaupt nicht gerecht behandelt und schon gar nicht geliebt. Luther sieht das und kann es nicht lösen. Als rettenden Strohhalm in dieser hoffnungslosen Lage bringt Luther dann sein eigenes Verständnis von Glaube ins Spiel:

Hier liegt die höchste Stufe des Glaubens vor: zu glauben, dass er gnädig ist, der so wenige rettet und so viele verdammt, zu glauben, dass er gerecht ist, der durch seinen eigenen Willen uns notwendig verdammenswert macht, so dass es scheint, wie Erasmus sagt, dass er an den Qualen der Unglücklichen Gefallen habe und mehr Haß als Liebe verdiene. Wenn ich also auf irgendeine Weise verstehen könnte, wie dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der so viel Zorn und Ungerechtigkeit an den Tag legt, wäre der Glaube nicht nötig. (Ebd.)

Wenn das eigene Lehrmodell zu einem ungnädigen, ungerechten und bösen Gott führt, muss man also glauben, dass er am Ende doch nicht so ungnädig, ungerecht und böse ist. Das sei die höchste Stufe des Glaubens. Meint Luther. Irgendwie erinnert mich das an jenen Arzt, der mir vor einigen Jahren Physikalische Therapien verschrieb und mich dann fragte, ob sie mir geholfen hätten. Als ich kurz und bündig nein sagte, meinte er nur seufzend: „Man muss eben auch daran glauben!“

Es versteht sich von selbst, dass die andere Seite völlig andere Dinge unter Gnade, Liebe und Glaube versteht, oder? Glaube ist für die rechte Lehre kein starrköpfiges Festhalten an einer unlogischen Philosophie, die sich selbst widerspricht, sondern die logische und nachvollziehbare Gewissheit der wahren Gerechtigkeit, Liebe und Gnade Gottes, die erlebbar sind jetzt und heute, so wie sie uns Jesus Christus gelehrt und vorgelebt hat und wie sie die Apostel überlieferten. Und die Früchte der Lehre der Apostel sind auch völlig andere. Zur Illustration dafür ein Bericht aus dem zweiten Jahrhundert, verfasst in Form eines Briefes der einem Heiden erklärt, wie die Christen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung so sind und welche Früchte sie bringen:

Denn die Christen sind weder durch Heimat noch durch Sprache und Sitten von den übrigen Menschen verschieden. Sie bewohnen nirgendwo eigene Städte, bedienen sich keiner abweichenden Sprache und führen auch kein absonderliches Leben. Keineswegs durch einen Einfall oder durch den Scharfsinn vorwitziger Menschen ist diese ihre Lehre aufgebracht worden und sie vertreten auch keine menschliche Schulweisheit wie andere.
Sie bewohnen Städte von Griechen und Nichtgriechen, wie es einem jeden das Schicksal beschieden hat, und fügen sich unauffällig der Landessitte in Kleidung, Nahrung und in der sonstigen Lebensart, legen aber dabei eine wunderbare und anerkanntermaßen auffällige Lebensweise an den Tag. Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber nur wie Beisassen; sie beteiligen sich an allem wie Bürger und lassen sich alles gefallen wie Fremde; jede Fremde ist ihnen Vaterland und jedes Vaterland eine Fremde.
Sie heiraten wie alle andern und zeugen Kinder, setzen aber die geborenen nicht aus. Sie haben gemeinsamen Tisch, aber kein gemeinsames Bett. Sie sind im Fleische, leben aber nicht nach dem Fleische. Sie verbringen ihr Leben auf Erden, sind aber Bürger des Himmels. Sie befolgen die vorgeschriebenen Gesetze und übertreffen gleichzeitig diese Gesetze durch ihren Lebenswandel.
Sie lieben alle Menschen und werden von allen verfolgt. Man kennt sie nicht und verurteilt sie doch, sie werden getötet und wieder zum Leben erweckt.
Sie sind arm und machen dennoch Viele reich; sie leiden Mangel an allem und haben doch alles im Überfluss. Sie werden entehrt, und doch werden sie gerade in ihrer Entehrung verherrlicht.
Sie werden schlecht geredet und doch werden sie als gerecht befunden. Sie werden gekränkt und segnen, werden verspottet und erweisen Ehre.
Sie tun Gutes und werden wie Übeltäter gestraft. Bestraft man sie, freuen sie sich, als würden sie zum Leben erweckt. Von den Juden werden sie angegriffen als Fremde, und von den Griechen werden sie verfolgt; aber einen Grund für ihren Hass vermögen die Hasser nicht anzugeben. (Brief an Diognet V)

Welch ein herrliches Zeugnis über die frühen Christen! Auf welchen heutigen Christ trifft das zu? Kann das vielleicht von der Gnadenlehre abhängig sein? Dieser Brief ist übrigens in voller Länge in unserem oben erwähnten Buch beinhaltet.

Auf der linken Seite haben wir dem entgegen gesetzt Menschen, die sich passiv treiben lassen in dem Glauben, dass sie ohnehin nichts Gutes bewerkstelligen können. Deswegen bemühen sie sich auch gar nicht gute Werke zu tun, sondern begehen mit ruhigem Gewissen alle Laster und Sünden, die auch die Welt begeht, weil sie sowieso nichts an ihrem vorherbestimmten Schicksal ändern können, und weil sie durch Gnade gerettet sind. Sie sind nicht besser als die Gottlosen, aber glauben, besser dran zu sein. 

Am 28.Juli 1545, also 7 Monate vor seinem Tod, jammerte Luther in einem Brief an seine Frau über die verkommenen Sitten in Wittenberg, der Hochburg seines Wirkens, der Stadt, in der er lebte, lehrte, und in der die Reformation ihren Anfang genommen hatte:

Vielleicht wird Wittenberg, wie sichs anlässt, mit seinem Regiment nicht St. Veits Tanz, noch St. Johannis Tanz, sondern den Bettler-Tanz oder Belzebubs Tanz kriegen, wie sie anfangen, die Frauen oder Jungfrauen zu blößen hinten und vornen, und niemand ist, der da strafe oder wehre, und wird Gottes Wort dazu gespottet. Nur weg und aus dieser Sodoma. [...*]. Ich habe auf dem Lande mehr gehört, denn ich zu Wittenberg erfahre, darum ich der Stadt müde bin, und nicht wiederkommen will, da mir Gott zu helfe. (Martin Luther, Brief an seine Frau vom 28.Juli 1545 (Zeitz))

* Die vulgären Beschimpfungen Luthers haben wir ausgelassen. Martin Luther kann jedenfalls nicht behaupten, er hätte die Früchte nicht selbst erlebt, auch wenn er womöglich die Zusammenhänge seiner Gnadenlehre mit dem Sittenverfall in der Bevölkerung abstreiten wollte. Der Zusammenhang ist aber in Wahrheit unübersehbar und hat schon einige Historiker und Kritiker beschäftigt. Es wurden schon viele Kapitel darüber geschrieben in den letzten Jahrhunderten, sogar ganze Bücher, wie etwa Döllinger, Die Reformation : ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des Lutherischen Bekentnisses, 1848. In jüngster Zeit tat dies sehr anschaulich und gut zu verstehen David Bercot in seinem Buch Würden die Theologen sich bitte setzen, Aktualisierte Ausgabe, 2022.

Philipp Melanchthon, Luthers rechte Hand und sein Nachfolger, bekam schon früh jenen berühmten Ratschlag von Luther per Brief:

„Sei ein Sünder und habe starke Sünden“ (Luthers Brief an Melanchthon, 1. Aug 1521)

Damit gab Martin Luther seinem Nachfolger eindeutig Anstoß zur Sünde. Jesus verurteilte genau das aber längst im Voraus:

Er sprach aber zu den Jüngern: Es ist unvermeidlich, dass Anstöße [zur Sünde] kommen; wehe aber dem, durch welchen sie kommen! Es wäre für ihn besser, wenn ein großer Mühlstein um seinen Hals gelegt und er ins Meer geworfen würde, als dass er einem dieser Kleinen einen Anstoß [zur Sünde] gibt. (Lk 17,1-2)

Der Ausspruch Luthers „sündige tapfer“ wurde als Slogan der Reformation berühmt und gilt heute noch als beliebter Leitfaden für seine Nachfolger. Luthers Anstöße zur Sünde wirken bis heute. Dieselben Früchte brachten bereits die Gnostiker. Über die Nachfolger des Urgnostikers Simon, der Samariter aus Gitta, wird berichtet:

So machen sich die, die an Simon und Helena glauben, bis auf den heutigen Tag kein Gewissen, als Freie zu tun, was immer sie wollen; durch seine Gnade, sagen sie, würden sie gerettet. Wenn einer Böses tue, so sei dies nichts Strafwürdiges, es sei nicht natürlich böse. (Hippolytus von Rom, Widerlegung aller Häresien, Buch VI, K. 15)

An anderer Stelle berichtet ein noch früherer christlicher Lehrer sichtlich empört über den moralischen Verfall der Gnostiker als Früchte ihrer falschen Gnadenlehre:

Daher tun denn auch die Vollkommensten von ihnen alles Verbotene ohne Scheu, jene Dinge, von denen die Schriften versichern, daß „die, welche solches tun, das Reich Gottes nicht erben werden“. Götzenopfer essen sie unbedenklich und glauben sich nicht dadurch zu beflecken. Bei jedem Feiertagsvergnügen der Heiden, das zu Ehren der Götzen veranstaltet wird, stellen sie sich als die ersten ein. Nicht einmal von den bei Gott und den Menschen verhaßten Tierkämpfen und menschenmordenden Einzelkämpfen halten manche sich fern. Andere dienen maßlos den Lüsten des Fleisches und sagen, man müsse das Fleisch dem Fleische, den Geist dem Geiste darbringen. Einige wiederum schänden heimlich die Weiber, die sie in ihrer Lehre unterrichten, — oftmals schon haben es Frauen, die von ihnen verführt waren und sich alsdann bekehrten, mit ihrer sonstigen Verirrung bekannt —; andere nahmen öffentlich und ohne Scheu Frauen, in die sie sich verliebt hatten, ihren Männern weg und machten sie zu ihren Weibern; noch andere schließlich, die anfangs ehrbar mit ihnen wie mit Schwestern zu verkehren vorgaben, wurden im Laufe der Zeit ertappt, als die Schwester von dem Bruder schwanger geworden war.
Nicht genug damit: während sie vieles Schändliche und Gottlose begehen, fallen sie über uns her, die wir aus Gottesfurcht uns hüten, auch nur in Gedanken oder Worten zu sündigen, wie über Idioten und Dummköpfe; sich selbst aber überheben sie, indem sie als die Vollkommenen sich bezeichnen und den Samen der Auserwählung. Wir sollen die Gnade nur zum Gebrauch erhalten und danach wieder verlieren, sie wollen die Gnade von oben her aus der unaussprechlichen und unnennbaren Verbindung als ihr Eigentum in Besitz haben, und deswegen werde ihnen „noch hinzugelegt werden“. (Irenäus, Gegen die Häresien (BKV), Erstes Buch, 6. Kapitel: Die Moral der Gnostiker)

Wir sehen hier bereits exakt die selben Argumente und dieselben Früchte wie sie mehr als tausend Jahre später Martin Luther wiederholte. Sie sind „durch seine Gnade gerettet“, glaubten sie, und so haben sie kein schlechtes Gewissen wenn sie sündigen, sie können sich daher aufführen wie sie möchten, auch alles Böse tun, es ist egal, es ist nicht wirklich böse, weil es vorherbestimmt ist, und deswegen werden sie am Ende gerettet. Sie könnten die Gnade auch nicht verlieren, denn sie besitzen sie, weil sie eine bessere Verbindung zu oben hätten und Auserwählte wären. Und somit findet man bei ihnen alle Formen der Sünde und besonders alle Spielarten der Unzucht. Und sie sind noch stolz darauf und spotten über jene, die der Sünde fliehen und ein heiliges Leben führen möchten.

Gegen diese gnostische Irrlehre wetterte bereits Paulus:

Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit beweist, was sollen wir sagen? Ist Gott etwa ungerecht, wenn er das Zorngericht verhängt? (Ich rede nach Menschenweise.)
Das sei ferne! Wie könnte Gott sonst die Welt richten?
Wenn nämlich die Wahrhaftigkeit Gottes durch meine Lüge überströmender wird zu seinem Ruhm, weshalb werde ich dann noch als Sünder gerichtet? Müsste man dann nicht so [reden], wie wir verleumdet werden und wie etliche behaupten, dass wir sagen: »Lasst uns Böses tun, damit Gutes daraus komme«? Ihre Verurteilung ist gerecht! (Röm 3,5-8)
Was wollen wir nun sagen? Sollen wir in der Sünde verharren, damit das Maß der Gnade voll werde?
Das sei ferne! Wie sollten wir, die wir der Sünde gestorben sind, noch in ihr leben? (Röm 6,1-2)

Paulus, Irenäus, Hippolytus von Rom, Justin der Märtyrer und alle anderen frühen Christen kannten Martin Luther nicht, aber Martin Luther hätte sie alle kennen und lesen können, er hätte ihren Kampf gegen die Gnosis wahrnehmen und weiterführen können und somit in die Fußstapfen von den Aposteln treten können. Stattdessen trat er in die Fußstapfen der Gnostiker und machte die Gnosis im Christentum groß.


Fazit und Lösung

Fassen wir zusammen:

Auf der linken Seite haben wir einen bösen, ungerechten Gott, der das Schicksal für alle Menschen vorherbestimmt hat und alle Menschen mit Zwang dazu reitet, und wo der Mensch nichts daran ändern kann. Das nennt die linke Seite Gnade, sie ist unverdient, unverlierbar und muss man im Glauben annehmen, denn erlebbar oder mit Vernunft erfassbar ist das alles nicht.

Auf der rechten Seiten haben wir Christen, die wissen, dass Gott wirklich gerecht ist und deswegen den Menschen einen freien Willen gab und sie deswegen auch dafür richten wird. Und darum leben sie täglich in der Heiligung und legen einen tadellosen Lebenswandel hin, und spornen einander dazu an, weil sie wissen, dass sie dadurch erst Gottes Gnade würdig sind. Das ist erlebbar und vernünftig und bestätigt Gott laufend durch seine Unterstützung, denn es gibt eine Kooperation in Sachen Gnade mit Gott und den Menschen.

Die linke Lehre ist älter als das Christentum. Sie kommt aus der griechischen Philosophie und wurde von den Gnostikern mit christlichen Begriffen verkleidet und drang so langsam ins Christentum ein, bis Martin Luther sie als Kern des Christentums bezeichnete und alle, die das tadeln als größte Feinde der Christen verurteilte.

Auf der rechten Seite haben wir die Lehre der Apostel, die im Prinzip die ganze Heilige Schrift durchzieht, vom ersten bis zum letzten Buch, und die die frühen Christen mit viel Kraft gegen die aufsteigende Gnosis zu verteidigen versuchten. Es gelang nur wenige Jahrhunderte bis zur Konstantinische Wende.

Als Lösung für das Problem, dass das Wort „Gnade“ heute von den meisten Menschen völlig falsch verstanden wird, schon rein sprachlich, haben wir einen sehr interessanten Ansatz bei manchen englischen Bibeln gefunden, den wir hier anbieten und vorschlagen möchten: reden wir nicht mehr von „Gnade“ sondern von „Gunst“, denn dieses Wort kommt dem griechischen Wort „charis“ viel näher, wird auf Deutsch noch richtig verstanden, und passt an allen Stellen in der Schrift, wo „charis“ steht. Das tut nämlich „Gnade“ nicht und wird deswegen stellenweise anders übersetzt oder sogar weggelassen, wie wir bereits im anderen Beitrag über Gnade vorführten.

Hier ein paar Beispiele, wie Gunst passen und den Sinn besser verdeutlichen würde:

Das erste Mal taucht charis gleich im ersten Buch der Heiligen Schrift auf, in Genesis 6:

Noah aber fand Gnade vor Gott dem Herrn. (Gen 6,8)

Finden ist ein aktives Wort. Die Gnade Gottes ist Noah nicht vorherbestimmt zugefallen, sondern er fand sie, weil er so lebte, wie es Gott gefiel. Als einziger auf der Erde damals übrigens. Er hatte also Gottes Wohlgefallen, oder - anders ausgedrückt - sich Gottes Gunst erworben. Das drückt der Satz dann so aus:

Noah aber fand Gunst vor Gott dem Herrn.

Dieselbe Formulierung kommt im Buch Esther vor:

Und Esther fand Gnade und Erbarmen vor seinem Angesicht (Esther 2,9)

Vor wem fand Esther Gnade und warum? Sie fand Gnade vor Bugaios, dem Eunuch des Königs, weil sie so außerordentlich schön war. Besser erklären würde das folgende Formulierung:

Und Esther fand Gunst und Erbarmen vor seinem Angesicht

Denn ab dem Moment war Esther der Günstling von Bugaios und wurde speziell und bevorzugt für die Wahl des Königs vorbereitet, dessen Gunst sie sich erst noch erarbeiten musste und es auch tat:

Als der König alle Jungfrauen genau angesehen hatte, erschien Esther als die besterscheinende, und sie fand Gnade und Erbarmen vor seinem Angesicht, und er setzte das Diadem der Königsherrschaft auf ihr Haupt. (Esther 2,17)

Esther tat aktiv etwas, genau wie Noah, um das Wohlgefallen ihres Herrn zu erlangen. In dem Fall war ihr Herr der König, dessen Königin es zu werden galt. Und sie schaffte es, sie verdiente es sich. Sie erlangte die Gunst des Königs:

Als der König alle Jungfrauen genau angesehen hatte, erschien Esther als die besterscheinende, und sie fand Gunst und Erbarmen vor seinem Angesicht, und er setzte das Diadem der Königsherrschaft auf ihr Haupt. (Esther 2,17)

Sowohl bei Noah als auch Esther passt Gunst besser und ist für viele moderne Leser verständlicher als Gnade, weil Gunst immer erarbeitet wird und auch eindeutig wurde von diesen zwei Vorbildern. Von Esther lernen wir übrigens auch, dass Gnade immer wieder aufs Neue erarbeitet, also verdient werden muss. Man muss dran bleiben, so wie Esther sich ganz besonders bemühte, die Gunst ihres Gemahls, des Königs, immer wieder neu zu erlangen. Einmal durch ihre überaus schöne Erscheinung, die sie mit Eifer und körperlichen Einsatz lange vorbereitete und pflegte und dann ein anderes Mal durch ein besonders kostbares Bankett:

Und die beiden stellten sich ein zum Mahl, das Esther veranstaltete, ein kostbares Bankett. Da sagte der König zu Esther: Königin, was ist dein Wille? Erbitte für dich bis zur Hälfte meines Königreiches, und es wird dir gewährt sein, was immer du forderst. Da sagte Esther: Meine Bitte und mein Begehr: Wenn ich Gunst vor dir, König, gefunden habe, und wenn es dem König gut erscheint, meiner Bitte stattzugeben und mein Begehr zu erfüllen, komme der König und Haman zum Mahl, das ich auch am morgigen Tag für sie veranstalten werde; und morgen werde ich es nämlich in gleicher Weise machen.

Im Grundtext steht hier, wie an allen anderen hier angeführten Stellen, charis. Als Übersetzung passt hier Gunst hervorragend und sagt meiner Meinung nach mehr als Gnade, denn Esther bemühte sich mit allem Eifer und das täglich und hartnäckig. Das Festbankett wiederholte sie ebenfalls, bis sie ganz die Gunst des Königs erlangt hatte, sodass sie sicher sein konnte, er würde ihre Bitte erhören. Diese Geschichte ist eine Lehrgeschichte, wie man mit einem König umgeht, dessen Gunst man finden möchte.

Genauso wie Esther bemühte sich auch die Urgemeinde im neuen Testament. Lukas berichtet:

Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Gunst beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.

Es ist die selbe Formulierung wie bei Esther, und auch hier steht charis. Auch hier passt Gunst perfekt, denn sie ist durch beständige Bemühung (täglich, einmütig beinander …) verdient. In dem Fall fand die Gemeinde sicher nicht nur die Gunst des Volkes, sondern auch Gottes. Leider verstehen diese Stelle viele moderne Christen falsch, weil sie glauben, sie müssten zuerst die Gunst des Volkes suchen. Das ist aber falsch und wird von der Kirchengeschichte widerlegt. Denn bald schon standen – auch in der Apostelgeschichte - die Christen nicht mehr in der Gunst des Volkes, sondern Herodes machte dem Volk sogar einen Gefallen, in dem er einige von der Gemeinde gefangen nahm, misshandelte und einen davon öffentlich hinrichtete (Apg 12,1-3).

Oder nehmen wir die Aussage Jesu, die Lukas wie oben beschrieben mit charis formulierte:

Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welche Gunst habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. (Lk 6,32)

Hier passt Gnade gar nicht für die modernen Übersetzungen, darum schreiben sie Dank. Aber Gunst wäre noch passender, weil sie in die Richtung lenkt, die Jesus meint: Wollt ihr die Gunst der Menschen oder Gottes erlangen? Und mit dieser Frage beschließen wir diesen Beitrag, obwohl es sicherlich noch viel mehr zu sagen gäbe. Aber der erste Gedankenanstoß ist getan. Weitere mögen noch folgen.