• Eine aufschlussreiche Gegenüberstellung

Vorherbestimmt?

Gnade ist ...
nicht vorherbestimmt

Martin Luther lehrte, wie im vorigen Kapitel ausgeführt, dass der Kern des Christentums darin bestehe, über den unfreien Willen Bescheid zu wissen. Das sei heilsnotwendig, denn davon hänge die Gnade ab. Diese Lehre Luthers schwebt nicht im luftleeren Raum, sondern er stellte sie auf ein uraltes Fundament: der Lehre der schicksalshaften Notwendigkeit. Das zu wissen, sei der andere Teil der Summe des Christentums, wie Luther selbst formuliert:

Der andere Teil der Summe des Christentums ist es, zu wissen, ob Gott irgend etwas zufällig vorherweiß, oder ob wir alles unter dem Zwang der Notwendigkeit tun. (Dr. Martin Luther, Vom unfreien Willen, Dezember 1525)

Diesen „Zwang der Notwendigkeit“ nannte Luther Prädestination, auf Deutsch Vorherbestimmung. Demnach bestimme Gott alles was auf der Welt geschieht im Voraus. Das führt zwangsläufig zu der Lehre, dass es keinen freien Willen gäbe und dass der Mensch sein Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen könne, sondern dass alles von Gott vorherbestimmt und mit Zwang ausgeführt werde. Luther drückte das so aus:

Alles, was wir tun, alles was geschieht, wenn es uns auch veränderlich und zufällig zu geschehen scheint, geschieht dennoch tatsächlich zwangsnotwendig und unwandelbar, wenn Du den Willen Gottes ansiehst. (Ebd.)

Mit „unwandelbar“ meinte Luther, dass weder Mensch noch Gott etwas daran ändern kann. Es ist vorherbestimmt. Das Schicksal ist unwandelbar, unveränderlich, unabwendbar. Es geschieht alles so – und nur so – wie Gott es vor Erschaffung der Welt vorherbestimmte. Den Beweis für seine Lehre holt sich Luther von den alten Griechischen Dichtern:

Dieser Dichter tut nichts anderes, als dass er an der Zerstörung Trojas und der Errichtung des römischen Reiches aufzeigt, dass das Schicksal mehr vermag als die Anstrengungen aller Menschen und so das Gesetz der Notwendigkeit den Dingen wie den Menschen auferlegt. Schließlich unterwirft er auch seine unsterblichen Götter dem Schicksal, dem sie notwendig weichen, auch Jupiter selbst und Juno. Von da her haben sie ersonnen, jene drei Parzen, unwandelbar, unversöhnlich, unerbittlich. (Ebd.)

Und Luther stützt sich auf Sprichwörter und das Wissen des einfachen Volkes:

Darum ist als Sprichwort in aller Munde: „Was Gott will, das geschehe“, ebenso: „so Gott will, wollen wir es tun“. Ebenso sagt Vergil: „So hat Gott es gewollt, so hat es den Göttern gefallen, so habt ihr es gewollt“. So sehen wir, dass im einfachen Volk nicht minder das Wissen um die Vorherbestimmung und das Vorherwissen Gottes geblieben ist, als die Gottesvorstellung selbst. Aber die, die weise scheinen wollten, sind durch ihre Überlegungen davon abgekommen, bis sie verblendeten Herzens Narren wurden (Röm. 1, 21 f) und leugneten oder in Abrede stellten das, was die Dichter und das einfache Volk und auch ihr eigenes Gewissen für das Vertrauteste, Gewisseste und Wahrste halten. (Ebd.)

Die Weisheit der antiken griechischen Dichter und des einfachen Volkes sind also für Luther richtungsweisend. Dagegen verhöhnt er alle Weisen, die das anders sehen.

Tatsächlich hatten die alten Griechen eine ausgeprägte Vorstellung vom Schicksal, das sie auch „Verhängnis“ nannten. Und sie hatten eigene Schicksalsgöttinnen, die drei Moiren, die unbestechlich und unbeirrbar das Schicksal aller Menschen (und Götter!) vorherbestimmten. Diesem Verhängnis war alles unterworfen und keiner konnte etwas dagegen unternehmen, nicht einmal der mächtige Göttervater Zeus. Diese Mythologie übernahmen die Römer von den Griechen und änderten nur die Namen. Aus den Moiren machten die Römer die Parzen (siehe Lutherzitat) und aus dem Göttervater Zeus machten sie Jupiter (siehe Lutherzitat). Die Juno der Römer (erwähnt Luther ebenfalls und führt sie als Zeugin seiner Argumente an) entspricht der Hera bei den Griechen. Sie ist die Gattin des Göttervaters, und damit die Himmelskönigin und aber genauso dem Schicksal machtlos ausgeliefert wie ihr Göttergatte und alle anderen Götter.

Auch den frühen Christen waren die griechischen Mythenerzähler und der davon geprägte Volksglaube bestens bekannt. Doch sie verurteilten das alles als Aberglaube und grenzten sich davon scharf ab:

Damit aber niemand aus dem vorher von uns Gesagten den Schluß ziehe, wir behaupten, daß das, was geschieht, nach der Notwendigkeit des Verhängnisses geschehe, weil wir ja vorhin bemerkten, es sei vorhergewußt, so wollen wir auch diese Schwierigkeit lösen.
Daß die Strafen und Züchtigungen wie auch die Belohnungen nach dem Werte der Handlungen eines jeden zugeteilt werden, darüber sind wir von den Propheten belehrt worden und verkünden es als wahr. Wenn das nicht der Fall wäre, sondern alles nach einem Verhängnisse geschähe, so gäbe es gar keine Verantwortlichkeit; denn wenn es vom Schicksale bestimmt ist, daß dieser gut und jener schlecht ist, so ist der eine so wenig zu loben als der andere zu tadeln.
Und wiederum: Wenn das Menschengeschlecht nicht das Vermögen hat, aus freier Wahl das Schändliche zu fliehen und sich für das Gute zu entscheiden, so ist es unschuldig an allem, was es tut. Daß es aber nach freier Wahl sowohl recht als auch verkehrt handelt, dafür führen wir folgenden Beweis. Man sieht ein und denselben Menschen den Übergang zum Entgegengesetzten machen; wenn es ihm aber vom Schicksale bestimmt wäre, daß er entweder schlecht oder gut ist, so wäre er niemals empfänglich für das Entgegengesetzte und ändert sich nicht so oft. Aber es wären auch nicht einmal die einen gut, die andern schlecht; denn wir müßten sonst erklären, daß das Verhängnis die Ursache des Guten und des Bösen sei und sich selbst widerspreche, oder wir müßten jenen früher erwähnten Satz für wahr halten, daß Tugend und Laster nichts seien, sondern nur nach der subjektiven Meinung das eine für gut, das andere für schlecht gehalten werde; das wäre aber, wie die wahre Vernunft zeigt, die größte Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit.
Wir sehen vielmehr das unentrinnbare Verhängnis darin, daß denen, die das Gute wählen, die entsprechende Belohnung und ebenso denen, die das Gegenteil wählen, die entsprechende Strafe zuteil wird. Denn nicht wie die übrigen Wesen, z. B. die Bäume und die Vierfüßler, die nichts nach freier Wahl zu tun vermögen, hat Gott den Menschen geschaffen; auch verdiente er weder Strafe noch Lohn, wenn er nicht aus sich das Gute wählte, sondern dazu geboren wäre, und ebenso könnte ihn nicht, wenn er böse wäre, mit Recht Strafe treffen, da er nicht aus sich so wäre, sondern nichts anderes sein könnte, als wozu die Natur ihn gemacht hätte. (1.Apologie XLIII)

Justin bringt es auf den Punkt. Nichts ist vorherbestimmt, nichts ist dem Verhängnis, das die Griechischen Philosophen erfunden haben, unterworfen, sondern alles hängt vom freien Willen der Menschen ab. Jeder Mensch bestimmt frei über sein Schicksal. Als Beweis führt Justin die Praxis an: wir sehen, dass Menschen sich ändern. Manche bösen Menschen werden gut und manche guten werden böse im Laufe ihres Lebens. Jeder Mensch kann also die Seiten wechseln. Das wäre nicht möglich, wenn es ein festgelegtes Schicksal gäbe, das die einen zu guten und die anderen zu bösen Menschen vorherbestimmt hätte. Die Heilige Schrift ist voll davon, dass Menschen sich ändern, zu beiden Seiten. Ändert man sich in Richtung böse, nennt das die Schrift Abfall, ändert man sich in Richtung gut, nennt sie das Bekehrung und Buße. Und immerhin hat Jesus gesagt, dass Er gekommen sei, um die Sünder zur Buße zu rufen. Das wäre ein nutzloses Unterfangen, wenn es ein festgelegtes Schicksal gäbe.

Aber Justin kennt schon auch ein unentrinnbares Verhängnis. Das aber ist am Ende das gerechte Gerichtsurteil Gottes und hängt aber völlig von der freien Willensentscheidung des Menschen ab, nämlich welchen Weg er wählte und wie er demzufolge sein Leben lebte. Der freie Wille ist die Grundlage von Gottes Gerechtigkeit. Vorherbestimmt ist dabei gar nichts, außer die Konsequenzen, je nach Wahl des Menschen.

Das Thema der Vorherbestimmung ist ein so großes, dass es einen eigenen Beitrag verdient hätte. Jeder frühchristliche Apologet schrieb darüber, weil die römisch-griechische Kultur davon geprägt war. Sie alle zu zitieren ist hier nicht der Platz. Hier soll nur gezeigt werden, wie für die linke Gnadenlehre am Ende bei der griechischen Mythologie landet und sich derem Verhängnisgedanken bedient. Das taten schon im ersten Jahrhundert gewisse „Christen“. Sie vermischten die griechischen Philosophien mit Worten der Apostel und konstruierten so eine neue Lehre, die im Volk großen Anklang fand, weil sie altes Gedankengut mit neuem, aufregenden belebte. Diese neue Lehre nannten sie „Gnosis“ (Erkenntnis). Das geschah schon zu Lebzeiten der Apostel. Paulus schrieb viel gegen die Gnostiker und auch Johannes und Petrus teilten verbale Hiebe gegen diese Irrlehre aus. Besonders starken Aufwind bekam die Gnosis aber erst nach dem Tod der Apostel im zweiten Jahrhundert. Von da an finden wir jede Menge Bücher der frühen Christen gegen alle Sorten von Gnostikern, damit die christlichen Gemeinden nicht deren verführerischen Worten und Lehren in die Falle gingen. Das zeigte ein paar Jahrhunderte lang in den Gemeinden Wirkung bis zur Konstantinischen Wende, wo plötzlich alles anders wurde. Erstmals wurden Gnostiker mit dem christlichen Lehramt betraut. Einer von ihnen war ein gewisser Augustinus. Der Augustinermönch Martin Luther schreibt über ihn:

der freie Wille sei zu nichts fähig außer zum Sündigen, Dies aber ist die Meinung Augustins, wie er sie an vielen anderen Stellen äußert, insbesondere jedoch in, seiner Schrift „Über den Geist und den Buchstaben“, wenn ich nicht irre, im vierten oder fünften Kapitel, wo er gerade jene Worte gebraucht. Jene dritte, härteste Meinung ist diejenige Wiclifs und Luthers selbst, dass der freie Wille eine leere Bezeichnung sei und dass alles, was geschehe, aus reiner Notwendigkeit erfolge. (Dr. Martin Luther, Vom unfreien Willen, Dezember 1525)

Falls jemand glauben sollte, dass Luther nicht einverstanden sei mit Augustinus, stellte Luther sofort klar, dass das alles eine und die selbe Lehre sei und auch er sie vertrete:

Aber ich rufe Gott zum Zeugen an, ich habe nichts anderes sagen, noch etwas anderes unter der Formulierung der beiden zuletzt genannten Ansichten verstanden wissen wollen, als das, was in der ersten Meinung gesagt ist. Ich glaube auch nicht, dass Augustin etwas anderes gewollt hat, noch ersehe ich etwas anderes aus seinen eigenen Worten, als was die erste Meinung aussagt, so dass die drei von der Diatribe aufgezählten Meinungen (zusammen) bei mir nichts anderes ergeben, als eben jene meine einzige Ansicht. (Ebd.)

Damit wäre dokumentiert, wie die gnostische Irrlehre der Vorherbestimmung, des Schicksals, des unfreien Willens und der Gnade über Augustinus zu Luther und von dort ins Christentum eindringen konnte. Luther fügte in die alte griechische Philosophie bloß ein paar neue christliche Vokabel ein und machte sie so für das Christentum fit. Genauso wie das schon die Gnostiker eineinhalb Jahrtausende vorher taten. Es gäbe noch viel darüber zu schreiben und man könnte noch viele Textzeugen ins Treffen führen, die das Bild erhärten. Für hier und jetzt reicht das Gesagte. Kommen wir zur Frage der Unverlierbarkeit.