• Eine aufschlussreiche Gegenüberstellung

Unabhängig von menschlichem Werken?

Gnade ist ...
abhängig von menschlichen Werken

Passend zu der Vorstellung, dass Gnade unverdient und bedingungslos sei, will die linke Seite sie unabhängig von menschlichem Bemühen verstanden wissen. Das macht in dieser Gedankenlinie irgendwie Sinn. Denn wenn jemand Gnade weder verdient noch eine Bedingung erfüllen muss, dann kann er sie nur bekommen, wenn sie unabhängig von seinem Bemühen ist. Die zwei ersten Punkte erzwingen somit automatisch den dritten (und übrigens auch den vierten und fünften und alle anderen auf der linken Seite), sonst kann dieses Gnadenverständnis nicht funktionieren.

Die Fürsprecher der rechten Seite verstehen die Logik der linken Seite, aber sie erwidern, dass nicht alles, was in sich logisch und schlüssig klingt, am Ende in der Praxis auch stimmig ist. Genauso wie bereits die ersten beiden Argumente der linken Seite in der Praxis nicht standhalten, verhält es sich mit dem dritten. Als Beweis kann man erneut die gelebte Praxis der Weihnachtsamnestie heranziehen. Nur das ernsthafte und dauerhafte Bemühen der Verbrecher hat dazu geführt, dass sie wegen guter Führung begnadigt wurden. Keine Begnadigung findet ohne irgendein Bemühen statt. Immer muss derjenige, der begnadigt werden möchte, sich darum bemühen. Von nichts kommt nichts. Ein zu lebenslanger Haft Verurteilter bleibt lebenslang im Gefängnis sitzen und wird nie begnadigt, wenn er sich nicht darum bemüht.

„Schön und gut“, wirft die linke Seite ein, „das gilt für die Welt, aber bei Gott ist das anders!“

„Das ist wieder nur eine Behauptung“, kontert die rechte Seite, „aber wo sind eure Beweise?“

„Der Schächer am Kreuz!“ schallt es wie aus einem Mund triumphierend von links.

Das muss man jetzt vielleicht erklären. In unserem Lexikon steht, dass das Wort Schächer „in der Luther-Bibel die beiden mit Jesus gekreuzigten Räuber oder Zeloten“ bezeichnet. Tatsächlich aber fanden wir keine Lutherbibel, in der das Wort Schächer vorkommt. Stattdessen steht in allen uns vorliegenden Lutherbibeln (2017, 1984, 1545) bei Matthäus „Mörder“ (27,44) , bei Markus „Mörder“ (15,27) bzw. „Übeltäter“ (15,28) und schließlich bei Lukas ebenfalls „Übeltäter“. Falls also eine Lutherbibel das Wort Schächer eingeführt haben soll, muss sie irgendwo zwischen 1545 und 1984 hin und her revidiert worden sein. Wir nehmen zweckdienliche Hinweise gerne an.

Hier die für das oben angeführte Argument ausschlaggebende Stelle aus dem Lukasevangelium nach der Lutherbibel von 1545:

Es wurden aber auch hingeführt zwei andere Übeltäter, daß sie mit ihm abgetan würden. Und als sie kamen an die Stätte die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn daselbst und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. [..] Aber der Übeltäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach:
Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns!
Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor GOtt, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und zwar wir sind billig darinnen; denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt. Und sprach zu JEsu: HErr, gedenke an mich wenn du in dein Reich kommst!
Und JEsus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradies sein. (Lk 23,32-33.39-43)

Wir sehen hier zwar keinen Schächer, trotzdem hat sich das Wort „Schächer“ im Sprachgebrauch vieler Christen und Künstler für die beiden Verbrecher, die links und rechts von Jesus gekreuzigt wurden, bis heute gehalten, und greifen wir daher gerne auf. Erwähnenswert ist vielleicht an der Stelle, dass sowohl das Matthäusevangelium als auch das Markusevangelium schreiben, dass beide Übeltäter Jesus verspotteten. Nur Lukas differenziert und berichtet, dass einer der beiden Jesus verteidigte gegen die Verspottungen des anderen, und dass Jesus ihn darauf mit den Worten „heute wirst du mit mir im Paradies sein“ offensichtlich begnadigte. Es hat sich sogar das Fachwort „Schächergnade“ dafür in christlichen Kreisen eingebürgert für eine Gnade, die ein Mensch wenige Augenblicke vor seinem Tod erlangt, obwohl er sein ganzes Leben lang ein Schächer, ein Gauner, ein Übeltäter war. Das ist anscheinend eine Gnade, die völlig unabhängig von den Bemühungen des Menschen sind und auch Mördern gewährt wird. Auf den ersten Blick scheint die linke Seite damit ein schlagendes Argument zu haben, eine Art Lotto-Sechser, den Hauptgewinn.

Die rechte Seite hat aber Einwände. Erstens gibt sie zu bedenken, dass die anderen beiden Evangelien, die ebenfalls von dieser Szene berichten, nicht diesen einen begnadigten Schächer erwähnen (siehe oben), und dass diese anderen Evangelien aber jene waren, die ursprünglich für die Mission und Verkündigung des Evangeliums im Einsatz waren. Hinzu kommt zweitens, dass das „Hauptevangelium“ der linken Gnadenlehre, nämlich das Johannesevangelium, die beiden Schächer mit keinem Wort erwähnt und schon gar nicht den einen begnadigten Schächer, der das Hauptargument der linken Seite ist! Der Schwerpunkt, der seit wenigen Jahrhunderten auf diesen Schächer gelegt wird, verzerrt daher das ursprüngliche Bild und die Betonung auf eine Gnade, die ein Sonderfall ist, kein Regelfall und schon gar nicht einer, auf dem man eine Lehre aufbauen darf. So entstehen immer Irrlehren, wenn man kleines groß macht und großes klein, wenn man den Hintergrund in den Vordergrund rückt und den Vordergrund in den Hintergrund, wenn man Einzelfälle zur Regel und die Regel zum Einzelfall macht.

Drittens wendet die rechte Seite ein, dass auch in diesem kurzen Dialog bei Lukas zu erkennen ist, dass der begnadigte Schächer sich bemühte. Er tat etwas. Er verteidigte Jesus mutig gegen den anderen Schächer und gegen das ganze Volk, gegen die Soldaten, Schriftgelehrten und Priester, die unter dem Kreuz standen und allesamt Jesus laut verspotteten. Und er unterwarf sich dem König Jesus Christus. Er anerkannte seinen wahren König, während alle anderen ihn nur verachteten. Der Schächer ist also ein Lehrbeispiel dafür, dass man nicht mit den Wölfen heulen darf, dass man sich nicht der Mehrheitsmeinung anschließen darf, dass man nicht mit dem Strom schwimmen darf, sondern sich dagegen stellen und für den wahren König Jesus Christus eintreten muss, selbst wenn man der einzige ist und nur noch ein paar Atemzüge zu leben hat. Die rechte Seite erkennt also eine mutige und richtige Tat bei dem Schächer und damit hat er sich die Gnade Jesu verdient. Hätte der Schächer nichts getan und nichts gesagt, so hätte er diese Gnade nicht gewährt bekommen.

Viertens sieht die rechte Seite nicht nur den einen Schächer, sondern auch den anderen, der nicht Gnade bekam, denn der hatte sie nicht verdient. Er war in der selben Situation, aber er tat nicht dasselbe. Unterschiedliche Taten führten zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der eine bekommt Gnade, der andere nicht, und das hängt gerade auch in jener Geschichte von den Werken der beteiligten Menschen ab. In Wahrheit ist das Lieblingsargument der linken Seite also eines, das bei genauer Betrachtung gegen sie spricht, denn wer nichts tut oder das falsche tut, verdient keine Gnade und bekommt keine Gnade. Das sieht man am anderen Schächer. Das bringt uns zum nächsten Punkt.