Die Früchte der beiden Seiten
Nun wird es endlich Zeit, dass wir uns die Früchte der beiden Lehren ansehen, denn „an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“, lehrte Jesus Christus.
Welche Früchte bringt ein Christentum, das an ein vorherbestimmtes, unwandelbares Schicksal glaubt, und an einen unfreien Willen, sodass kein Mensch etwas gutes oder böses freiwillig tut, sondern immer nur das, wozu er von Gott zwangsweise geritten wird? Und was hat das für eine Auswirkung auf das Verständnis von Gnade?
Hier ist – wie so oft – ein Blick in die Kirchengeschichte sehr aufschlussreich. Man vergleiche die Lutheraner mit den frühen und den späten Christen und alle miteinander mit den Gnostikern. Das wäre sehr spannend und würde ein eigenes Buch füllen. Machen wir es aber hier lieber kurz und fragen wir Martin Luther, der selbst mit dieser Frage von Erasmus konfrontiert wurde und diesem folgendes antwortete:
Wer, sagst Du, wird sich ernstlich bemühen, sein Leben zu bessern? Darauf antworte ich: Kein einziger Mensch. Und keiner wird auch (von sich aus) dazu imstande sein denn Deine sogenannten „Verbesserer“, die ohne den Geist Gottes sind, interessieren Gott gar nicht, weil sie Heuchler sind Die Auserwählten und die Frommen aber werden durch den heiligen Geist gebessert werden, die übrigen werden ungebessert zu Grunde gehen. Denn Augustin sagt nämlich auch nicht, dass keines oder aller Menschen gute Werke belohnt werden, sondern: „einiger“, so dass es nicht gar keiner sein wird, der sein Leben besserte.
Wer wird glauben, sagst Du, dass er von Gott geliebt werde? Darauf antworte ich: kein einziger Mensch wird es glauben, und keiner wird auch (von sich aus) dazu imstande sein. Die Auserwählten aber werden es glauben die übrigen werden ohne zu glauben untergehen, zornig und Gott lästernd, so wie Du es hier tust. Deshalb wird es nicht gar keiner sein, der es glaubte. Was aber nun das betrifft, dass durch diese Lehren der Gottlosigkeit Raum eröffnet wird, so sei es so. Jene mögen zu dem Aussatz gehören. von dem oben gesagt wurde, dass er das zu ertragende Übel sei. (Dr. Martin Luther, Vom unfreien Willen, Dezember 1525)
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie diese offenen und direkten Worte von Luther lesen. Sie zeigen aber genau das Christentum, das Luther hervor brachte. Und Luther gibt das Dilemma seiner Gnadenlehre ehrlich zu:
Im Licht der Gnade ist es unlösbar, wie Gott den verdammen kann, der aus seinen eigenen Kräften nichts anderes tun kann, als sündigen und schuldig werden. Hier sagen sowohl das Licht der Natur, wie das Licht der Gnade, dass die Schuld nicht des armen Menschen, sondern des ungerechten Gottes sei. Denn sie können nicht anders über Gott urteilen, der den gottlosen Menschen umsonst ohne Verdienste krönt, und einen anderen nicht krönt, sondern verdammt, der vielleicht weniger oder wenigstens nicht mehr gottlos ist. (Ebd.)
Luthers Lehre führt also zu einem ungerechten und bösen Gott. Es sind exakt die selben Früchte der Gnostiker und der Griechischen Mythologie: sie haben ungerechte, böse Götter, die willkürlich machen was sie wollen und nur mit den Menschen herumspielen. Der Mensch hat keinen Einfluss darauf und fühlt sich von den Göttern überhaupt nicht gerecht behandelt und schon gar nicht geliebt. Luther sieht das und kann es nicht lösen. Als rettenden Strohhalm in dieser hoffnungslosen Lage bringt Luther dann sein eigenes Verständnis von Glaube ins Spiel:
Hier liegt die höchste Stufe des Glaubens vor: zu glauben, dass er gnädig ist, der so wenige rettet und so viele verdammt, zu glauben, dass er gerecht ist, der durch seinen eigenen Willen uns notwendig verdammenswert macht, so dass es scheint, wie Erasmus sagt, dass er an den Qualen der Unglücklichen Gefallen habe und mehr Haß als Liebe verdiene. Wenn ich also auf irgendeine Weise verstehen könnte, wie dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der so viel Zorn und Ungerechtigkeit an den Tag legt, wäre der Glaube nicht nötig. (Ebd.)
Wenn das eigene Lehrmodell zu einem ungnädigen, ungerechten und bösen Gott führt, muss man also glauben, dass er am Ende doch nicht so ungnädig, ungerecht und böse ist. Das sei die höchste Stufe des Glaubens. Meint Luther. Irgendwie erinnert mich das an jenen Arzt, der mir vor einigen Jahren Physikalische Therapien verschrieb und mich dann fragte, ob sie mir geholfen hätten. Als ich kurz und bündig nein sagte, meinte er nur seufzend: „Man muss eben auch daran glauben!“
Es versteht sich von selbst, dass die andere Seite völlig andere Dinge unter Gnade, Liebe und Glaube versteht, oder? Glaube ist für die rechte Lehre kein starrköpfiges Festhalten an einer unlogischen Philosophie, die sich selbst widerspricht, sondern die logische und nachvollziehbare Gewissheit der wahren Gerechtigkeit, Liebe und Gnade Gottes, die erlebbar sind jetzt und heute, so wie sie uns Jesus Christus gelehrt und vorgelebt hat und wie sie die Apostel überlieferten. Und die Früchte der Lehre der Apostel sind auch völlig andere. Zur Illustration dafür ein Bericht aus dem zweiten Jahrhundert, verfasst in Form eines Briefes der einem Heiden erklärt, wie die Christen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung so sind und welche Früchte sie bringen:
Denn die Christen sind weder durch Heimat noch durch Sprache und Sitten von den übrigen Menschen verschieden. Sie bewohnen nirgendwo eigene Städte, bedienen sich keiner abweichenden Sprache und führen auch kein absonderliches Leben. Keineswegs durch einen Einfall oder durch den Scharfsinn vorwitziger Menschen ist diese ihre Lehre aufgebracht worden und sie vertreten auch keine menschliche Schulweisheit wie andere.
Sie bewohnen Städte von Griechen und Nichtgriechen, wie es einem jeden das Schicksal beschieden hat, und fügen sich unauffällig der Landessitte in Kleidung, Nahrung und in der sonstigen Lebensart, legen aber dabei eine wunderbare und anerkanntermaßen auffällige Lebensweise an den Tag. Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber nur wie Beisassen; sie beteiligen sich an allem wie Bürger und lassen sich alles gefallen wie Fremde; jede Fremde ist ihnen Vaterland und jedes Vaterland eine Fremde.
Sie heiraten wie alle andern und zeugen Kinder, setzen aber die geborenen nicht aus. Sie haben gemeinsamen Tisch, aber kein gemeinsames Bett. Sie sind im Fleische, leben aber nicht nach dem Fleische. Sie verbringen ihr Leben auf Erden, sind aber Bürger des Himmels. Sie befolgen die vorgeschriebenen Gesetze und übertreffen gleichzeitig diese Gesetze durch ihren Lebenswandel.
Sie lieben alle Menschen und werden von allen verfolgt. Man kennt sie nicht und verurteilt sie doch, sie werden getötet und wieder zum Leben erweckt.
Sie sind arm und machen dennoch Viele reich; sie leiden Mangel an allem und haben doch alles im Überfluss. Sie werden entehrt, und doch werden sie gerade in ihrer Entehrung verherrlicht.
Sie werden schlecht geredet und doch werden sie als gerecht befunden. Sie werden gekränkt und segnen, werden verspottet und erweisen Ehre.
Sie tun Gutes und werden wie Übeltäter gestraft. Bestraft man sie, freuen sie sich, als würden sie zum Leben erweckt. Von den Juden werden sie angegriffen als Fremde, und von den Griechen werden sie verfolgt; aber einen Grund für ihren Hass vermögen die Hasser nicht anzugeben. (Brief an Diognet V)
Welch ein herrliches Zeugnis über die frühen Christen! Auf welchen heutigen Christ trifft das zu? Kann das vielleicht von der Gnadenlehre abhängig sein? Dieser Brief ist übrigens in voller Länge in unserem oben erwähnten Buch beinhaltet.
Auf der linken Seite haben wir dem entgegen gesetzt Menschen, die sich passiv treiben lassen in dem Glauben, dass sie ohnehin nichts Gutes bewerkstelligen können. Deswegen bemühen sie sich auch gar nicht gute Werke zu tun, sondern begehen mit ruhigem Gewissen alle Laster und Sünden, die auch die Welt begeht, weil sie sowieso nichts an ihrem vorherbestimmten Schicksal ändern können, und weil sie durch Gnade gerettet sind. Sie sind nicht besser als die Gottlosen, aber glauben, besser dran zu sein.
Am 28.Juli 1545, also 7 Monate vor seinem Tod, jammerte Luther in einem Brief an seine Frau über die verkommenen Sitten in Wittenberg, der Hochburg seines Wirkens, der Stadt, in der er lebte, lehrte, und in der die Reformation ihren Anfang genommen hatte:
Vielleicht wird Wittenberg, wie sichs anlässt, mit seinem Regiment nicht St. Veits Tanz, noch St. Johannis Tanz, sondern den Bettler-Tanz oder Belzebubs Tanz kriegen, wie sie anfangen, die Frauen oder Jungfrauen zu blößen hinten und vornen, und niemand ist, der da strafe oder wehre, und wird Gottes Wort dazu gespottet. Nur weg und aus dieser Sodoma. [...*]. Ich habe auf dem Lande mehr gehört, denn ich zu Wittenberg erfahre, darum ich der Stadt müde bin, und nicht wiederkommen will, da mir Gott zu helfe. (Martin Luther, Brief an seine Frau vom 28.Juli 1545 (Zeitz))
* Die vulgären Beschimpfungen Luthers haben wir ausgelassen. Martin Luther kann jedenfalls nicht behaupten, er hätte die Früchte nicht selbst erlebt, auch wenn er womöglich die Zusammenhänge seiner Gnadenlehre mit dem Sittenverfall in der Bevölkerung abstreiten wollte. Der Zusammenhang ist aber in Wahrheit unübersehbar und hat schon einige Historiker und Kritiker beschäftigt. Es wurden schon viele Kapitel darüber geschrieben in den letzten Jahrhunderten, sogar ganze Bücher, wie etwa Döllinger, Die Reformation : ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des Lutherischen Bekentnisses, 1848. In jüngster Zeit tat dies sehr anschaulich und gut zu verstehen David Bercot in seinem Buch Würden die Theologen sich bitte setzen, Aktualisierte Ausgabe, 2022.
Philipp Melanchthon, Luthers rechte Hand und sein Nachfolger, bekam schon früh jenen berühmten Ratschlag von Luther per Brief:
„Sei ein Sünder und habe starke Sünden“ (Luthers Brief an Melanchthon, 1. Aug 1521)
Damit gab Martin Luther seinem Nachfolger eindeutig Anstoß zur Sünde. Jesus verurteilte genau das aber längst im Voraus:
Er sprach aber zu den Jüngern: Es ist unvermeidlich, dass Anstöße [zur Sünde] kommen; wehe aber dem, durch welchen sie kommen! Es wäre für ihn besser, wenn ein großer Mühlstein um seinen Hals gelegt und er ins Meer geworfen würde, als dass er einem dieser Kleinen einen Anstoß [zur Sünde] gibt. (Lk 17,1-2)
Der Ausspruch Luthers „sündige tapfer“ wurde als Slogan der Reformation berühmt und gilt heute noch als beliebter Leitfaden für seine Nachfolger. Luthers Anstöße zur Sünde wirken bis heute. Dieselben Früchte brachten bereits die Gnostiker. Über die Nachfolger des Urgnostikers Simon, der Samariter aus Gitta, wird berichtet:
So machen sich die, die an Simon und Helena glauben, bis auf den heutigen Tag kein Gewissen, als Freie zu tun, was immer sie wollen; durch seine Gnade, sagen sie, würden sie gerettet. Wenn einer Böses tue, so sei dies nichts Strafwürdiges, es sei nicht natürlich böse. (Hippolytus von Rom, Widerlegung aller Häresien, Buch VI, K. 15)
An anderer Stelle berichtet ein noch früherer christlicher Lehrer sichtlich empört über den moralischen Verfall der Gnostiker als Früchte ihrer falschen Gnadenlehre:
Daher tun denn auch die Vollkommensten von ihnen alles Verbotene ohne Scheu, jene Dinge, von denen die Schriften versichern, daß „die, welche solches tun, das Reich Gottes nicht erben werden“. Götzenopfer essen sie unbedenklich und glauben sich nicht dadurch zu beflecken. Bei jedem Feiertagsvergnügen der Heiden, das zu Ehren der Götzen veranstaltet wird, stellen sie sich als die ersten ein. Nicht einmal von den bei Gott und den Menschen verhaßten Tierkämpfen und menschenmordenden Einzelkämpfen halten manche sich fern. Andere dienen maßlos den Lüsten des Fleisches und sagen, man müsse das Fleisch dem Fleische, den Geist dem Geiste darbringen. Einige wiederum schänden heimlich die Weiber, die sie in ihrer Lehre unterrichten, — oftmals schon haben es Frauen, die von ihnen verführt waren und sich alsdann bekehrten, mit ihrer sonstigen Verirrung bekannt —; andere nahmen öffentlich und ohne Scheu Frauen, in die sie sich verliebt hatten, ihren Männern weg und machten sie zu ihren Weibern; noch andere schließlich, die anfangs ehrbar mit ihnen wie mit Schwestern zu verkehren vorgaben, wurden im Laufe der Zeit ertappt, als die Schwester von dem Bruder schwanger geworden war.
Nicht genug damit: während sie vieles Schändliche und Gottlose begehen, fallen sie über uns her, die wir aus Gottesfurcht uns hüten, auch nur in Gedanken oder Worten zu sündigen, wie über Idioten und Dummköpfe; sich selbst aber überheben sie, indem sie als die Vollkommenen sich bezeichnen und den Samen der Auserwählung. Wir sollen die Gnade nur zum Gebrauch erhalten und danach wieder verlieren, sie wollen die Gnade von oben her aus der unaussprechlichen und unnennbaren Verbindung als ihr Eigentum in Besitz haben, und deswegen werde ihnen „noch hinzugelegt werden“. (Irenäus, Gegen die Häresien (BKV), Erstes Buch, 6. Kapitel: Die Moral der Gnostiker)
Wir sehen hier bereits exakt die selben Argumente und dieselben Früchte wie sie mehr als tausend Jahre später Martin Luther wiederholte. Sie sind „durch seine Gnade gerettet“, glaubten sie, und so haben sie kein schlechtes Gewissen wenn sie sündigen, sie können sich daher aufführen wie sie möchten, auch alles Böse tun, es ist egal, es ist nicht wirklich böse, weil es vorherbestimmt ist, und deswegen werden sie am Ende gerettet. Sie könnten die Gnade auch nicht verlieren, denn sie besitzen sie, weil sie eine bessere Verbindung zu oben hätten und Auserwählte wären. Und somit findet man bei ihnen alle Formen der Sünde und besonders alle Spielarten der Unzucht. Und sie sind noch stolz darauf und spotten über jene, die der Sünde fliehen und ein heiliges Leben führen möchten.
Gegen diese gnostische Irrlehre wetterte bereits Paulus:
Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit beweist, was sollen wir sagen? Ist Gott etwa ungerecht, wenn er das Zorngericht verhängt? (Ich rede nach Menschenweise.)
Das sei ferne! Wie könnte Gott sonst die Welt richten?
Wenn nämlich die Wahrhaftigkeit Gottes durch meine Lüge überströmender wird zu seinem Ruhm, weshalb werde ich dann noch als Sünder gerichtet? Müsste man dann nicht so [reden], wie wir verleumdet werden und wie etliche behaupten, dass wir sagen: »Lasst uns Böses tun, damit Gutes daraus komme«? Ihre Verurteilung ist gerecht! (Röm 3,5-8)
Was wollen wir nun sagen? Sollen wir in der Sünde verharren, damit das Maß der Gnade voll werde?
Das sei ferne! Wie sollten wir, die wir der Sünde gestorben sind, noch in ihr leben? (Röm 6,1-2)
Paulus, Irenäus, Hippolytus von Rom, Justin der Märtyrer und alle anderen frühen Christen kannten Martin Luther nicht, aber Martin Luther hätte sie alle kennen und lesen können, er hätte ihren Kampf gegen die Gnosis wahrnehmen und weiterführen können und somit in die Fußstapfen von den Aposteln treten können. Stattdessen trat er in die Fußstapfen der Gnostiker und machte die Gnosis im Christentum groß.