Apostel Paulus
Apostel Paulus, gemalt von Peter Paul Rubens

Ein weiteres Beispiel dafür, wie über Paulus falsche Gerüchte verbreitet werden - und zwar von seinen Lebzeiten an bis heute - ist sein Verhältnis zu den Juden und dem Gesetz Moses. Paulus sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, dass er gegen das Gesetz lehren würde und eine eigene Lehre für die Heiden eingeführt hätte. Bis heute glauben viele, dass Paulus der „Heidenapostel“ war, der ein eigenes Evangelium nur für die Heiden verkündet hätte. Aber stimmt das? Wie reagierte Paulus selbst auf diese Behauptungen?

Es stimmt, dass Paulus sich selbst als Lehrer der Heiden bezeichnete:

Das ist das Zeugnis zur rechten Zeit, für das ich eingesetzt wurde als Verkündiger und Apostel — ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht —, als Lehrer der Heiden im Glauben und in der Wahrheit. [1.Tim 2,7]

Das Gleiche schreibt Paulus auch in anderen Briefen, wie etwa im 2.Timotheusbrief (1,11), im Epheser (3,1.8), Galater (1,16) und im Römerbrief (11,13; 15,15-19).

Schon bei der Bekehrung von Paulus sprach Gott zu Ananias über Paulus:

Geh hin, denn dieser ist mir ein auserwähltes Werkzeug, um meinen Namen vor Heiden und Könige und vor die Kinder Israels zu tragen! [Apg 9,15]

Im Galaterbrief berichtet Paulus über seine Begegnung mit den Aposteln Jakobus, Petrus und Johannes in Jerusalem folgendes: 

.. als sie sahen, dass ich mit dem Evangelium an die Unbeschnittenen betraut bin, gleichwie Petrus mit dem an die Beschneidung —  denn der, welcher in Petrus kräftig wirkte zum Aposteldienst unter der Beschneidung, der wirkte auch in mir kräftig für die Heiden —, und als sie die Gnade erkannten, die mir gegeben ist, reichten Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen gelten, mir und Barnabas die Hand der Gemeinschaft, damit wir unter den Heiden, sie aber unter der Beschneidung wirkten; nur sollten wir an die Armen gedenken, und ich habe mich auch eifrig bemüht, dies zu tun. [Gal 2,7-10

Das klingt auf den ersten Blick alles wirklich so, als wäre die Welt unter den Aposteln damals in zwei Teile, nämlich Juden (Beschnittene) einerseits und Heiden (Unbeschnittene) andererseits aufgeteilt worden, wobei Paulus für die Heiden zuständig gewesen sei, und die anderen Aposteln alle für die Juden. Aber war das wirklich so? Theoretiker könnten das glauben. Die Lehre der Apostel besteht jedoch nicht aus Theorie, sondern zeigt sich in der Praxis. Wie haben Paulus und die anderen Apostel diese theoretische Aufteilung selbst verstanden und praktiziert?

Petrus hat, wie die Bibel ausführlich und nicht undramatisch erzählt, Heiden das Evangelium verkündet und diese auch getauft (Apg. 10,24ff) und lehrte bis zu seinem Tod die Heiden in Rom. Jakobus Sohn des Zebedäus missionierte in Spanien, Johannes in Kleinasien, Andreas in Kleinasien, Skythien, den Donauländern und Russland, Philippus ebenfalls in Kleinasien und Skythien, Thomas in Indien, Bartholomäus in Persien, Armenien und Indien, Matthäus in Persien und Äthiopien, Simon der Kananiter in Ägypten, Nordafrika, Britannien, Persien, Spanien und Babylon, Judas Thaddäus in Persien und Babylon, Matthias in Mesopotamien und Äthiopien. Allein diese kurze Liste zeigt eindeutig, dass alle Aposteln auch den Heiden das Evangelium brachten und somit in der Praxis alle Aposteln in Wahrheit Heidenaposteln waren. Es war sogar so, dass die meisten Aposteln den Großteil ihrer Zeit und Kraft den Heiden widmeten. Und das ist kein Wunder, denn sie befolgten dem Befehl ihres Herrn: 

So geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes [Mt 28,19]

Diesen Befehl gab Jesus Christus seinen zwölf Aposteln vor Seiner Himmelfahrt. Und da war Paulus noch gar kein Apostel, ja nicht mal noch ein Christ! Nachdem er Christ und von Gott als Apostel berufen wurde, ging Paulus überall in jede Synagoge jeder Stadt, die auf seiner Reise lag, und lehrte dort die Juden. Ja, er beschnitt sogar seinen heidnischen Jünger Timotheus, damit er ihn mitnehmen konnte in die Synagogen (Apg 16,1-3)! So wichtig war es Paulus zu den Juden zu gehen. In der Apostelgeschichte sind mehrere Begebenheiten überliefert, die Paulus mit den Juden erlebte. In den allermeisten Fällen lehnten die Juden Paulus in dem Moment ab, wo er von Jesus Christus lehrte. Nicht selten wurde er von ihnen deswegen aus der Stadt vertrieben, oder verprügelt. Zweimal wurde er sogar gesteinigt. Nur ein einziges Mal berichtet uns die Bibel, dass Paulus in einer Synagoge auf Juden traf, die ihm und seiner Botschaft gegenüber offen waren, nämlich in Beröa:

Die Brüder aber schickten sogleich während der Nacht Paulus und Silas nach Beröa, wo sie sich nach ihrer Ankunft in die Synagoge der Juden begaben. Diese aber waren edler gesinnt als die in Thessalonich und nahmen das Wort mit aller Bereitwilligkeit auf; und sie forschten täglich in der Schrift, ob es sich so verhalte. Es wurden deshalb viele von ihnen gläubig, auch nicht wenige der angesehenen griechischen Frauen und Männer. [Apg 17,10-12]

Die Freude währte aber nicht lange: 

Als aber die Juden von Thessalonich erfuhren, dass auch in Beröa das Wort Gottes von Paulus verkündigt wurde, kamen sie auch dorthin und stachelten die Volksmenge auf. [Apg 17,11]

Das war leider das eher vertraute Bild: die Juden hassten Paulus, er war sogar unter den Juden der meistverhasste Christ im 1.Jahrhundert. Es mag einerseits daher kommen, weil er selbst ursprünglich der große Hoffnungsträger der Juden im Kampf gegen das Christentum war, aber vor allem daher, dass er eben nicht nur als Heidenapostel auftrat, sondern sich mit großem Eifer und Einsatz in jeder Synagoge auf seiner Reise um jeden einzelnen Juden kümmerte und ihn zum Christentum bekehren wollte. Dabei stieß Paulus meist auf derartig verstockte Herzen, dass er zwischendurch schon das Handtuch werfen wollte:

Da sagten Paulus und Barnabas freimütig: Euch musste das Wort Gottes zuerst verkündigt werden; da ihr es aber von euch stoßt und euch selbst des ewigen Lebens nicht würdig achtet, siehe, so wenden wir uns zu den Heiden. Denn so hat uns der Herr geboten: »Ich habe dich zum Licht für die Heiden gesetzt, damit du zum Heil seist bis an das Ende der Erde!« Als die Heiden das hörten, wurden sie froh und priesen das Wort des Herrn, und es wurden alle die gläubig, die zum ewigen Leben bestimmt waren. Das Wort des Herrn aber wurde durch das ganze Land getragen. [Apg 13,46-49]

Doch die Juden blieben verstockt und verfolgten Paulus und seine Begleiter zunehmend hasserfüllter und leidenschaftlicher.

Aber die Juden reizten die gottesfürchtigen Frauen und die Angesehenen und die Vornehmsten der Stadt auf, und sie erregten eine Verfolgung gegen Paulus und Barnabas und vertrieben sie aus ihrem Gebiet. Da schüttelten diese den Staub von ihren Füßen gegen sie und gingen nach Ikonium. [Apg 13,50-51]

In Korinth schließlich reichte es Paulus mit den Juden und er schleuderte ihnen in der Synagoge seinen Entschluss entgegen:

Als aber Silas und Timotheus aus Mazedonien ankamen, wurde Paulus durch den Geist gedrängt, den Juden zu bezeugen, dass Jesus der Christus ist. Als sie aber widerstrebten und lästerten, schüttelte er die Kleider aus und sprach zu ihnen: Euer Blut sei auf eurem Haupt! Ich bin rein davon; von nun an gehe ich zu den Heiden! [Apg 18,5-6]

Im Römerbrief begründet er das später so:

Aber ich frage: Hat es Israel nicht erkannt? Schon Mose sagt: »Ich will euch zur Eifersucht reizen durch das, was kein Volk ist; durch ein unverständiges Volk will ich euch erzürnen«. Jesaja aber wagt sogar zu sagen: »Ich bin von denen gefunden worden, die mich nicht suchten; ich bin denen offenbar geworden, die nicht nach mir fragten«. In Bezug auf Israel aber spricht er: »Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt nach einem ungehorsamen und widerspenstigen Volk!« [Röm 10,19-21]

Doch Paulus wurde nicht verbittert, sondern blieb auch seiner Retterliebe gegenüber den Juden bis zu seinem Tod treu. Er ging in Jerusalem in den Tempel und wurde dort ja auch verhaftet. Währenddessen versuchte er wortreich mit einer eigenen Predigt, die er ausnahmsweise auf Hebräisch hielt, die Juden für Jesus Christus zu gewinnen (Apg 22). Und als er dann doch in Rom war und auf sein Verhör durch den römischen Kaiser wartete, empfing er eine Delegation der Juden Roms und verkündete ihnen das Evangelium vom Reich Gottes: (Apostelgeschichte 28,17-29). Hier nur zwei Verse aus dem Bericht:

Nachdem sie ihm nun einen Tag bestimmt hatten, kamen mehrere zu ihm in die Herberge. Diesen legte er vom Morgen bis zum Abend in einem ausführlichen Zeugnis das Reich Gottes dar und suchte sie zu überzeugen von dem, was Jesus betrifft, ausgehend von dem Gesetz Moses und von den Propheten. Und die einen ließen sich von dem überzeugen, was er sagte, die anderen aber blieben ungläubig.

Das war das übliche Bild, das übliche Ergebnis, das Paulus Zeit seines Lebens sah. Und es begann mit einem alten Vorwurf, der ihm nicht nur Zeit seines Lebens begleitete, sondern der ihm bis heute gemacht wird:

Das ist der Mensch, der überall jedermann lehrt gegen das Volk und das Gesetz und diese Stätte. (Apostelgeschichte 21,28)

Und als dieser erschien, stellten sich die Juden, die von Jerusalem herabgekommen waren, ringsherum auf und brachten viele und schwere Anklagen gegen Paulus vor, die sie nicht beweisen konnten, während er sich so verteidigte: Weder gegen das Gesetz der Juden, noch gegen den Tempel, noch gegen den Kaiser habe ich etwas verbrochen! (Apostelgeschichte 25,7-8)

Paulus wurde also immer schon beschuldigt, dass er gegen das Gesetz predigen würde. Doch das ist eine Lüge, die sich aber hartnäckig hielt. Bei seiner Ankunft in Jerusalem wurde er von seinen Brüdern sogar darauf angesprochen:

Es ist ihnen aber über dich berichtet worden, du würdest alle Juden, die unter den Heiden sind, den Abfall von Mose lehren und sagen, sie sollten ihre Kinder nicht beschneiden und nicht nach den Gebräuchen wandeln. (Apg 21,21)

Und dann gaben sie Paulus folgenden Rat, um die falschen Gerüchte zu zerstreuen:

So tue nun das, was wir dir sagen: Wir haben vier Männer, die ein Gelübde auf sich haben; diese nimm zu dir, lass dich reinigen mit ihnen und trage die Kosten für sie, dass sie das Haupt scheren lassen; so können alle erkennen, dass nichts ist an dem, was über dich berichtet worden ist, sondern dass auch du ordentlich wandelst und das Gesetz hältst. (Apg 21,23-24)

Paulus befolgte den Rat, doch es half nichts. Die Juden im Tempel beschuldigten ihn weiterhin, dass er gegen das Gesetz lehrt und sogar den Tempel geschändet hätte. Paulus verteidigte sich immer wieder gegen diese Vorwürfe in den folgenden Jahren, hier zum Beispiel vor dem Statthalter Felix:

Das bekenne ich dir aber, dass ich nach dem Weg, den sie eine Sekte nennen, dem Gott der Väter auf diese Weise diene, dass ich an alles glaube, was im Gesetz und in den Propheten geschrieben steht (Apg 24,14)

Wie kam es aber nun, dass damals bis heute Paulus als jener Apostel gilt, der gegen das Gesetz predigte als wollte er es abschaffen, als sei es ungültig? Nun, dass ist einigen seiner Aussagen, die er in Predigten und Briefen tätigte geschuldet. Dort klingt es so, als würde er das Gesetz abschaffen und dagegen lehren. Heute berufen sich viele Christen, die glauben, sie müssten das Gesetz Gottes nicht mehr halten, weil es abgeschafft sei, auf Paulus. Aber zu unrecht. Er hat es nie aufgelöst (dazu hatte er ja nie die Vollmacht, denn ein Gesetz auflösen kann nur der Gesetzgeber selbst, und der war Paulus ja gar nicht) und auch nie auflösen wollen. Er hielt es ja bis zum Schluss selbst und hat an vielen Stellen seiner Lehrbriefe das Gesetz gepredigt und eingemahnt! Aber er wurde dabei oft missverstanden, weil er mit dem Wort „Gesetz“ nicht immer dasselbe meinte. Der Begriff ist vieldeutig und Paulus verstand ihn in verschiedenen Zusammenhängen auch verschieden. Aber das zu erklären, reicht hier der Platz nicht und führt hier zuweit, weil es nicht nur eine Eigenheit von Paulus ist, sondern von der ganzen Heiligen Schrift: sie verwendet dasselbe Wort für verschiedene Bedeutungen. Und das werden wir an einer eigenen Stelle ausführen und bitten bis dahin um Geduld. Hier wollen wir nur zeigen, dass der Vorwurf, Paulus würde gegen das Gesetz predigen, ein alter ist, den er schon zu Lebzeiten versuchte zu widerlegen.

Die Juden zu seiner Zeit wollten es nicht annehmen und bestanden weiterhin stur auf ihren Anschuldigungen. Aber haben die Christen daraus gelernt? Kennen sie Paulus in dem Punkt heute besser als die Juden damals?