Paulus tritt - was eher selten ist - als einziger Autor dieses Briefes auf, wobei er den Brief wie üblich diktiert. Der Bruder, der mit der Niederschrift betraut ist, nennt sich im letzten Kapitel Tertius und richtet, wie ebenfalls üblich, auch einen persönlichen Gruß an die Empfänger. Empfänger des Briefes sind alle in Rom anwesenden Geliebten Gottes, die berufenen Heiligen. Im Gegensatz zu der heute weit verbreiteten Meinung, dass Paulus diesen Brief ausnahmsweise an eine ihm unbekannte Gemeinde schrieb, kennt er doch mindestens zwei Dutzend Männer und Frauen in Rom nicht nur dem Namen nach, sondern ist mit einigen auch verwandt. Das geht aus dem Schluss seines Briefes sehr anschaulich hervor, wo Paulus auffallend viele mit Namen grüßen lässt und persönliche Worte an sie richtet. Ganz so als hätte er geahnt, dass Jahrtausende später die Irrlehre verbreitet werden würde, Paulus hätte diesen Brief an Fremde geschrieben.
Das sollte nicht die einzige Irrlehre bleiben, die im Laufe der Jahrtausende aus dem Römerbrief abstrahiert wurde. Heute ist er eine wahre Fundgrube für beinahe alle Richtungen von Irrlehren in Sachen Rechtfertigungslehre, Gnadenlehre, Israel, Erlösung, Gehorsam gegenüber weltlichen Obrigkeiten, Beurteilung von Werken u.v.a. Das hängt damit zusammen, dass der Römerbrief seit 500 Jahren eine Vormachtstellung in der Bibel genießt, die er davor nie hatte, und die er einem einzigen Mann zu verdanken hat, nämlich dem deutschen Augustinermönch Martin Luther. Dieser schrieb in seiner Einleitung zum Neuen Testament:
Welches die rechten und edelsten Bücher des Neuen Testaments sind:
Aus diesem allen kannst du nun recht über alle Bücher urteilen und unterscheiden, welches die besten sind. Denn das Evangelium des Johannes und die Briefe des Paulus, insbesondere der an die Römer, und der erste Brief des Petrus sind nämlich der rechte Kern und das Mark unter allen Büchern, welche auch billig die ersten sein sollten. Und einem jeglichen Christen wäre zu raten, daß er dieselben am ersten und allermeisten lese und sich durch täglich Lesen so vertraut machte wie das tägliche Brot. Denn in diesen findest du nicht viel Werke und Wundertaten Christi beschrieben, du findest aber gar meisterlich dargelegt, wie der Glaube an Christus Sünde, Tod und Hölle überwindet und das Leben, Gerechtigkeit und Seligkeit gibt, welches die rechte Art des Evangeliums ist, wie du gehört hast.
Denn wenn ich je auf deren eins verzichten sollte, auf die Werke oder die Predigten Christi, dann wollte ich lieber auf die Werke als auf seine Predigten verzichten. Denn die Werke hülfen mir nichts, aber seine Worte, die geben das Leben, wie er selbst sagt. Weil nun Johannes gar wenig Werke von Christus, aber gar viele seiner Predigten beschreibt, umgekehrt die andern drei Evangelisten aber viele seiner Werke und weniger seiner Worte beschreiben, ist das Evangelium des Johannes das einzige, schöne, rechte Hauptevangelium und den andern dreien weit, weit vorzuziehen und höher zu heben. Ebenso gehen auch des Paulus und Petrus Briefe weit den drei Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas voran.
In Summa: das Evangelium des Johannes und sein erster Brief, die Briefe des Paulus, insbesondere der an die Römer, Galater, Epheser und der erste Brief des Petrus, das sind die Bücher, die dir Christus zeigen und dich alles lehren, was dir zu wissen not und selig ist, ob du schon kein ander Buch und Lehre nimmer sehest noch hörest. (Dr. Martin Luther, Vorrede zum Neuen Testament)
Viele Christen folgen seither Martin Luthers Argumentation und erheben den Römerbrief weit über die Evangelien und restlichen Bücher des Neuen Testaments. Das führte nicht nur dazu, dass der Römerbrief in vielen christlichen Denominationen das meistgelesene Buch der Bibel wurde, sondern auch dass ihm lehrmäßig alle anderen Schriften untergeordnet wurden. Doch das ist erst seit der Reformation so. Davor wurde der Römerbrief völlig anders bewertet. Ja sogar in der Zeit der Reformation gab es eine Gegenbewegung, der sogenannte dritte Flügel der Reformation, nämlich die Täuferbewegung. Die Täufer entdeckten, lasen und predigten die Schriften und Lehren der frühen Christen, bezogen sich auf diese, und zitierten daher zum Beispiel das Buch Jesus Sirach doppelt so oft wie den Römerbrief. Zum Ärgernis der Reformatoren, die das Buch Jesus Sirach aus ihren Bibeln verbannten, wie auch alle anderen Apokryphen. Die Täufer wurden von den anderen „Christen“ als Ketzer verurteilt, verfolgt, gefoltert und hingerichtet. Und das mitunter gestützt durch Zitate aus dem Römerbrief.
Was aber zur Zeit der Reformation genauso wie heute von der breiten Masse der Christen übersehen wurde und wird ist der Fakt, dass zur Zeit der Apostel und in den darauffolgenden Jahrhunderten der Römerbrief eine völlig andere Stellung hatte. Er war von Anfang an allen Evangelien untergeordnet, weil die Evangelien Worte des Herrn Jesus enthielten, die über allem standen. Jesus Christus war für die frühen Christen der absoluten Herrscher, Gesetzgeber, König, Richter, Lehrer, Meister und Gott! Alle Apostel ordneten sich Christus unter und das tat insbesonders auch der demütige Paulus selbst in seinen Briefen. Und so wurde der Römerbrief im frühen Christentum den Evangelien untergeordnet. Das Matthäusevangelium war das meistgelesene und weitverbreitetste Buch im frühen Christentum und wurde mehr als doppelt so oft zitiert als zum Beispiel der Römerbrief. Kein Vers aus dem Römerbrief brachte es unter die Top 20 Zitate des frühen Christentums! Unter den Top 50 der frühen Christen hat der Römerbrief gerade mal 2 Verse. Der am meisten zitierte Vers der frühen Christen aus dem Römerbrief ist übrigens 8,11:
Wenn aber der Geist dessen, der Jesus aus den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird derselbe, der Christus aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.
Das ist ein heute eher wenig bekannter Vers und schafft es gerade mal auf Platz 40 der frühchristlichen Zitate. Dass die Verschiebung des Fokus und Schwergewichtes innerhalb der Bücher des Neuen Testaments selbstverständlich eine Auswirkung auf das Gleichgewicht und die Lehre an sich hat, sollte jedem einleuchten und kann man deutlich an den unterschiedlichen Früchten der frühen Christen im Vergleich zu den Reformatoren und dem Christentum danach sehen, das vom Römerbrief dominiert wird. Denn wie man an der Einleitung von Martin Luther oben schön sehen kann, wird der Römerbrief sehr gerne dafür verwendet, um die Bedeutung der Werke im christlichen Leben herunterzuspielen, ja sogar zu leugnen, und das muss zwangsweise zu einem anderen Leben und zu anderen Früchten führen als zur Zeit der Apostel und der frühen Christen, die sich sehr stark auf die Werke konzentrierten. Schließlich sprach Jesus Christus ständig von Werken und war darin auch ein Vorbild und sein Bruder Jakobus schrieb im ersten Buch des Christentums:
Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst. (Jakobus 1,22)
Was hilft’s, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann denn der Glaube ihn selig machen?
So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein. (Jakobus 2,14.24)
Dieser Lehre widersprach Martin Luther energisch. Deswegen verunglimpfte er den Jakobusbrief wortreich und schreckte nicht einmal davor zurück, einen Vers im Römerbrief zu verfälschen. Aus dem Satz
»dass der Mensch aus Glauben gerechtfertigt wird, ohne Werke des Gesetzes«
in Römer 3,28 machte Martin Luther den Satz
dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.
Martin Luther fügte zu diesem Zwecke eigenmächtig das kleine Wort allein hinzu und veränderte damit nicht nur die Bedeutung in seinem Sinne, sondern erschuf gleichzeitig einen glatten Widerspruch zu Jakobus 2,24, wo ausdrücklich betont wird, dass es nicht durch Glauben allein geschieht! Bis heute erkennt man Luthers Geist in den von ihm geprägten Bibeln an dem hinzugefügten Wort allein in Römer 3,28.
Die neue Sonderstellung des Römerbriefes seit Martin Luther brachte ein Heer von Bibelauslegern und Kommentatoren hervor, die seither mit viel Wortakrobatik versuchten, den Römerbrief zu erklären und Luthers Lehren daraus zu rechtfertigen und gleichzeitig zu verschleiern, dass es sich dabei um den vielleicht schwierigsten Brief des Neuen Testaments handelt. Ein guter Freund schilderte mir seine Erfahrungen dazu wie folgt:
Ich hatte damals den Römerbrief mit modernen Kommentaren diverser Ausleger gelesen. Ich bekam fast Knoten im Gehirn. Es war pure Theorie, sinnlos, keine Zusammenhänge etc. Danach fing ich an Chrysostomus intensiver zu lesen. Es liest sich flüssig, sinnvoll. Man merkt sofort, dass das ein anderer Glaube ist und das ein anderer Geist in ihm wirkte.
Wer ähnliche Erfahrungen mit dem Lesen und Verstehen des Römerbriefes machte, und ihn aus der Zeit der frühen Christen verstehen will, dem sei der ausführliche Kommentar von Johannes Chrysostomus wärmstens empfohlen. Dieser hervorragende Lehrer hatte nicht nur den Vorteil, dass er Paulus noch in der Originalsprache lesen und verstehen konnte, sondern dass er in einer Gemeinde aufwuchs und unterwiesen wurde, die von Paulus gegründet wurde und die noch eine lebendige Überlieferung und Tradition aus der Zeit der Apostel pflegte! Chrysostomus geht den Römerbrief in einer Serie von Homilien (Predigten) systematisch Vers für Vers durch. Den genannten Kommentar kann man online gratis auf Deutsch in der Bibliothek der Kirchenväter hier lesen und herunterladen: Kommentar zum Briefe des hl. Paulus an die Römer (BKV)