• Wie ein wichtiges Gebot ins Gegenteil verdreht wurde

Es gibt viele Irrtümer bei der Bibelauslegung. Aber kaum einer brachte so viel Unheil über die Welt wie jener, dessen schlechte Früchte doch so leicht zu erkennen sind.

Beginnen möchte ich mit dem einfachsten Argument, das jeder verstehen und nachvollziehen kann, auch jene, die nichts mit der Bibel am Hut haben:


Lernen aus der Geschichte

Der Satz „Wir lernen aus der Geschichte nur, dass wir nichts aus der Geschichte lernen“ trifft leider auch hier voll zu. Die Menschheit wiederholt immer wieder die Fehler ihrer Vorfahren, weil sie nicht aus deren Fehlern lernt. Das gilt auch für falsche Bibelauslegungen im Christentum, die wiederholt für unermessliches Elend sorgten und schreckliche Kriege entfachten. Die Argumentation läuft dabei stets nach dem selben Muster ab, so wie aktuell im Krieg in der Ukraine:

Gewisse „Christen“ glauben, dass „Gott“ Präsident Wolodymyr Selenskyj eingesetzt habe, damit dieser den „Teufel“ Wladimir Putin im Namen Gottes bestrafe. Dazu hätte „Gott“ Selenskyj das Schwert in die Hand gegeben. Somit wird Mord, Verwüstung und jede andere kriegerische Handlung von „Christen“ gutgeheißen und sogar als „Wille Gottes“ verstanden und mit Wort und Tat unterstützt. „Christen“ üben sich allerorts in Kriegsrhetorik gegen den sogenannten „Teufel“ Putin und schicken bereitwillig Geld und Waffen in den Krieg, den sie auf die Art fortwährend verlängern.

Aufmerksamen Beobachtern dieser Argumentation wird auffallen, dass sie ein Eigentor ist. Denn mit dem selben Argument kann sich genauso gut die Gegenseite rechtfertigen. Die russischen „Christen“ könnten mit der selben Bibelauslegung glauben, dass „Gott“ ihren Präsident Wladimir Putin eingesetzt und ihm das Schwert in die Hand gegeben hätte um den „Teufel“ Wolodymyr Selenskyj zu bestrafen. Und genau das sagen viele russische „Christen“. Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter und sagen, dass Russland schon einmal die Nazis und deren teuflischen Führer bestraft und Europa davon befreit hätte und dass es nun wieder an der Zeit wäre. Und historisch gesehen haben sie recht. Historisch gesehen müsste man aber auch erkennen, dass bereits Adolf Hitler die selbe Bibelauslegung benutzte, um seinerzeit Christen in den Krieg zu schicken. Auch damals glaubten „Christen“, dass Hitler der von Gott eingesetzte Führer wäre und sie folgten ihm gehorsam und gläubig in den Krieg. Beide Großkirchen und alle Freikirchen (mit so wenigen Ausnahmen, dass sie hier nicht erwähnenswert sind, aber an anderer Stelle behandelt werden) grüßten in ihren Gottesdiensten den Hitlergruß, verteilten Traktate für ihren Führer, segneten seine Waffen, stellten ihm ihre Söhne als Soldaten zur Verfügung, und glaubten aufgrund ihrer Bibelauslegung, sie gefielen damit Gott. Das schreckliche Erwachen war groß als sie merkten, dass sie Lügen, Propaganda und Verblendung auf den Leim gegangen waren und Hitler keineswegs der von Gott eingesetzte Messias war, sondern ein Diener des Teufels. Aber die erdrückende Mehrheit der Deutschen Christen war ihm davor brav und gutgläubig mehr als ein Jahrzehnt gehorsam gewesen und hat in der Zeit ihre eigenen Glaubensbrüder denunziert, die sich Hitler widersetzten und dafür im KZ ermordet wurden. Damit haben alle hitlerergebenen „Kirchen“ und „Christen“ in Wahrheit ihre geistliche Inkompetenz bewiesen. Und die ganze Welt hätte lernen sollen, dass diese Bibelauslegung nicht stimmen kann. Aber wer hat die Lektion gelernt?

Es ist die selbe Bibelauslegung, die hunderte Millionen von Amerikanern immer wieder glauben macht, ihr Präsident sei von Gott eingesetzt um andere Staatsoberhäupter, die als Teufel gelten, mit Bomben und Raketen zu jagen und zu töten, und die deswegen jedes Mal mit heroischem Stolz und „christlicher Pflicht“ für ihren Präsidenten, ihr Land und mit „Gott“ an ihrer Seite in den Krieg gegen irgend einen „Schurkenstaat“ ziehen. Saddam Hussein, Osama Bin Laden, Muammar al-Gaddafi, Baschar al-Assad und natürlich Wladimir Putin sind nur die schillerndsten Namen auf der langen Liste all jener, die von amerikanischen Medien und ihren Freunden als Teufel bezeichnet wurden und somit als „legitimer“ Grund für „christliche“ US-Kriege und Kampfeinsätze gegen „das Böse“ herhalten mussten. Ich setze absichtlich alle Begriffe in Anführungszeichen, die man einer Neubeurteilung unterziehen sollte.

Die Geschichte wiederholt sich. Und es scheint als ob die Christen nichts daraus gelernt haben. Sie folgen immer noch derselben Bibelauslegung, die schon im Dritten Reich alle Christen zu Nazis machte. Wem fällt auf, dass diese Art des Christentums sich in einem Teufelskreis befindet? Aktuell ziehen in der Ukraine „Christen“ gegen „Christen“ in den Krieg. Beide glauben, sie hätten „Gott“ auf ihrer Seite. Beide Seiten behaupten von sich, sie seien „die Guten". Beide glauben, sie jagen „den Teufel“. 

Irgendetwas kann da nicht mehr stimmen. Irgendetwas ist da falsch gerannt. Aber wer hat den Fehler schon erkannt?

Nun, der Fehler ist einerseits einfach zu nennen aber andererseits komplex und vielschichtig zu erklären.

Einfach genannt würde es heißen, dass oben beschriebene „Christen“ in Wahrheit keine sind und dass das heutige Christentum mehrheitlich von der gesunden Lehre der Apostel abgefallen ist und stattdessen jenen Lehren der Dämonen folgt, vor denen die Apostel schon vor bald 2000 Jahren eindringlich warnten. Die Früchte der oben genannten „Christen“ sprechen gegen sie und sind konträr zu den Früchten der Apostel und frühen Christen.

Erklären und belegen kann man das sowohl aus der Heiligen Schrift als auch aus der Geschichte. Ich werde zeigen, woher jene falsche Bibelauslegung kommt, wie die beteiligten Bibelverse ursprünglich richtig gelehrt, verstanden und gelebt wurden, und werde das anhand historischer Texte untermauern.


Römer 13

Die zu dem Thema heute am meisten gebrauchte - und übrigens auch am meisten falsch verstandene - Bibelstelle steht, wie ebenfalls heute üblich, im Römerbrief und lautet in voller Länge so:

1 Jedermann ordne sich den Obrigkeiten unter, die über ihn gesetzt sind; denn es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre; die bestehenden Obrigkeiten aber sind von Gott eingesetzt. 
2 Wer sich also gegen die Obrigkeit auflehnt, der widersetzt sich der Ordnung Gottes; die sich aber widersetzen, ziehen sich selbst die Verurteilung zu. 
3 Denn die Herrscher sind nicht wegen guter Werke zu fürchten, sondern wegen böser. Wenn du dich also vor der Obrigkeit nicht fürchten willst, so tue das Gute, dann wirst du Lob von ihr empfangen!
4 Denn sie ist Gottes Dienerin, zu deinem Besten. Tust du aber Böses, so fürchte dich! Denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; Gottes Dienerin ist sie, eine Rächerin zum Zorngericht an dem, der das Böse tut. 
5 Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um des Zorngerichts, sondern auch um des Gewissens willen. 
6 Deshalb zahlt ihr ja auch Steuern; denn sie sind Gottes Diener, die eben dazu beständig tätig sind. 
7 So gebt nun jedermann, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer, Zoll, dem der Zoll, Furcht, dem die Furcht, Ehre, dem die Ehre gebührt. (Römer 13,1-7)

In diesen 7 Versen findet man alle Lieblingsbegriffe der obrigkeitshörigen, kriegsbefürwortenden Christen. Auf den ersten Blick scheint verständlich, warum sie glauben, dass sie jeder Obrigkeit gehorchen müssen, weil die ja von Gott eingesetzt sei und dass sie daher jeden Krieg unterstützen müssen, der von ihrer Obrigkeit gegen das Böse gerichtet ist. Es steht ja scheinbar in der Bibel. Der Schein trügt aber, wie so oft.


Wenn Unwissende Worte verdrehen

Das Problem beginnt schon damit, dass viele biblische Worte heute eine andere Bedeutung haben als damals und setzt sich fort, wo Übersetzer und Kommentatoren ans Werk gingen, die den Autor nicht kennen, und endet damit, dass sie so zu Lesarten und Auslegungen kommen, die den ursprünglich gemeinten Sinn verdrehen.

Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon mal so ging, dass Sie missverstanden wurden, wenn Sie einen Brief schrieben. Aber mir ging es schon einige Male so. Dabei schrieb ich an Leute, die mich persönlich kannten von mündlichen Gesprächen. Und dennoch kam es beim geschriebenen Wort zu Missverständnissen, die mich viel Zeit und Mühe - und meist persönliche Treffen - kosteten, um sie aufzuklären und zu bereinigen. Wie kommt das? In erster Linie liegt es nach meiner Erfahrung daran, dass beim geschriebenen Wort der Ton fehlt. Wenn ich rede, dann betone ich bestimmte Worte, weil ich so mit denselben Worten Verschiedenes ausdrücken kann; mal sind sie ironisch gemeint, dann ernst, mal lustig, dann traurig, mal energisch, dann sanft, usw. All das verliert man, wenn man schreibt. Ich kann als Autor eines Briefes nicht darüber verfügen, wie der Leser meine Worte liest. Der liest sie so, wie er will. Wenn er sich Mühe gibt, liest er sie so, wie er mich kennt und stellt sich vor, wie ich sie sprechen würde. Aber meist lesen die Leser einfach so, wie wenn sie selbst die Worte geschrieben hätten, sie lesen durch ihre eigene Brille, nicht durch die Brille des Autors. Im schlimmsten Fall liest der Empfänger aus dem Text ganz was anderes heraus als der Autor sagen wollte. Genauso ging es übrigens oft dem Autor des oben zitierten Briefes. Darum schreibe ich das hier überhaupt. Der Autor war schon zu seinen Lebzeiten dafür bekannt, dass er schriftlich völlig anders verstanden und aufgenommen wurde als mündlich. Er erkannte das und litt darunter. Deswegen schickte er auch Brüder mit seinen Briefen mit, einerseits um die Echtheit der Briefe zu bestätigen und andererseits um sie mündlich vorzutragen und zu erläutern. Und meist besuchte er zusätzlich zu einem späteren Zeitpunkt die Empfänger und sprach nochmal persönlich darüber und erklärte ausführlich mündlich, was er in Briefen nur kurz anriss. Trotz alledem ist er der wohl am meisten falsch verstandene Apostel des ersten Jahrhunderts. Die Rede ist von Paulus. Seine Apostelbrüder kannten das Problem und so schrieb etwa Petrus über die Briefe des Paulus:

„In ihnen ist manches schwer zu verstehen, was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften, zu ihrem eigenen Verderben.“ (2.Petr. 3,16)

Ich bin immer wieder überrascht, wie viele Bibelleser diese ernste Warnung von Petrus in den Wind schlagen. Ich meine, hier geht es um nichts geringeres als das eigene Verderben, und doch bilden sich nicht wenige Leser heute ein, dass sie auf Anhieb Paulus richtig verstünden, wo doch sogar Petrus, der Paulus einige Jahrzehnte lang persönlich kannte, mit ihm in der selben Sprache diskutierte, und tausende Stunden mit ihm verbrachte, zugab, dass die Briefe des Paulus schwer zu verstehen seien und dass man ein Wissender sein müsse, um nichts darin zu verdrehen. Und doch wagen sich Menschen, die Paulus nicht kennen, auch nicht seine Sprache, ebenso wenig seine Lehre, unbekümmert an diese Briefe. Ja sogar Neulingen, die noch nie die Bibel gelesen haben, wird oft empfohlen, mit dem Johannesevangelium zu beginnen und im Anschluss den Römerbrief zu lesen. Unfassbar.

So fahrlässig sind die frühen Christen nicht an Paulus herangegangen, überhaupt wo der Heilige Geist jeden Bibelleser durch Petrus extra vor den Paulusbriefen warnt! Erschwerend kommt hinzu, dass heute ja niemand mehr Paulus im Originalwortlaut liest, sondern in irgendeiner Übersetzung. Die frühen Christen sprachen die selbe Sprache wie Paulus und dennoch gab es Missverständnisse und Wortverdrehungen, wie wir gerade von Petrus erfahren haben. Wie viel mehr muss die Verdrehung sein, wenn noch ein Übersetzer dazwischen geschalten ist, der ein Unwissender oder Ungefestigter ist? Die meisten Übersetzer sind nicht mal gläubig, schon gar nicht haben sie den Heiligen Geist, und dennoch glauben die Leser, sie würden hier den puren, unverfälschten Paulus lesen und auf Anhieb richtig verstehen? Ich muss schon sagen, dass ich das nur als unwissenden Hochmut deuten kann, der heute leider weit verbreitet ist. Liest man die frühen Christen, so gingen sie mit viel mehr Respekt und Mühe an die Texte der Apostel, gerade an jene von Paulus, und suchten immer Rat bei jenen, die Paulus persönlich kannten, und sie taten noch etwas, was heute anscheinend völlig ignoriert wird: sie sahen sich das Leben von Paulus an. Das, wie Paulus seine eigenen Worte lebte, nur das zählte für seine Schüler. Das Maß war also die Praxis, nicht die Theorie. Und das ist der Kern der Lehre der Apostel: sie definiert sich aus der Praxis. Die Worte des Meisters müssen immer durch seine Taten gesehen und beurteilt werden. Heute wird dieser Grundsatz umgedreht und allein schon dadurch kommen späte Christen zu völlig anderen Ergebnissen als die frühen Christen, die aufmerksame Nachahmer ihrer Lehrer waren, nicht blinde Nachplapperer. Und genau dazu fordert gerade Paulus seine Leser an vielen Stellen auf: seid meine Nachahmer!

Bevor wir uns aber ansehen, wie Paulus selbst seine eigenen Worte lebte und also verstanden haben wollte, noch ein paar wichtige Hintergrundinformationen zu dem Brief, um den es hier geht, nämlich den Römerbrief.


Der Römerbrief 

Der Römerbrief gilt heute in weiten Teilen des Christentums als wichtigster Brief von Paulus. Ja, der Römerbrief gehört neben dem Johannesevangelium in einigen Konfessionen sogar zu den zwei meistzitierten Büchern der Bibel. Und viele Christen sehen heute diesen Schwerpunkt als von Gott gegebenen und lassen sich praktisch nur noch vom Römerbrief leiten, der quasi als der Goldstandard in Sachen christlicher Lehre gilt. Doch dieses geistliche Übergewicht hatte der Römerbrief nicht von Anfang an. Martin Luther hat erst vor etwa 500 Jahren damit begonnen: 

Aus diesem allen kannst du nun recht über alle Bücher urteilen und unterscheiden, welches die besten sind. Denn das Evangelium des Johannes und die Briefe des Paulus, insbesondere der an die Römer, und der erste Brief des Petrus sind nämlich der rechte Kern und das Mark unter allen Büchern, welche auch billig die ersten sein sollten. Und einem jeglichen Christen wäre zu raten, daß er dieselben am ersten und allermeisten lese und sich durch täglich Lesen so vertraut machte wie das tägliche Brot. …Weil nun Johannes gar wenig Werke von Christus, aber gar viele seiner Predigten beschreibt, umgekehrt die andern drei Evangelisten aber viele seiner Werke und weniger seiner Worte beschreiben, ist das Evangelium des Johannes das einzige, schöne, rechte Hauptevangelium und den andern dreien weit, weit vorzuziehen und höher zu heben. Ebenso gehen auch des Paulus und Petrus Briefe weit den drei Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas voran.

In Summa: das Evangelium des Johannes und sein erster Brief, die Briefe des Paulus, insbesondere der an die Römer, Galater, Epheser und der erste Brief des Petrus, das sind die Bücher, die dir Christus zeigen und dich alles lehren, was dir zu wissen not und selig ist, ob du schon kein ander Buch und Lehre nimmer sehest noch hörest. Darum ist der Jakobusbrief eine rechte stroherne Epistel gegen sie; da er doch keine evangelische Art an sich hat. Doch davon weiter in andern Vorreden. (Martin Luther, Vorrede zum Neuen Testament) 

Mit Vorreden wie dieser beeinflusste Luther die Bibelleser indem er ihnen vorgab, welche Bücher wichtiger und besser wären und täglich gelesen werden sollten, und welche dagegen eher nicht gelesen werden bräuchten. Mit der Zeit wurde die empfohlene Leseliste immer kürzer. Hatte Martin Luther noch mehrere Briefe von Paulus, Petrus und Johannes neben dem Evangelium des Johannes empfohlen, so beschränkt sich die Lesepraxis vieler Christen heute nur noch auf das Johannesevangelium (meist das erste und einzige Evangelium, das Christen zu lesen bekommen - ja es ist auch bei Bibelübersetzungsprojekten das erste Buch der Bibel, das übersetzt und gedruckt wird) und den Römerbrief. Diesen Zug brachte erst Martin Luther ins Rollen und verpasste damit dem Christentum eine eigene Richtung. Die frühen Christen hatten einen anderen Zugang zu den Heiligen Schriften und setzen ganz andere Schwerpunkte.

Heute sieht es so aus, dass zwar verschiedene christliche Kirchen und Konfessionen unterschiedliche „Lieblingsbücher“ haben, aber bei allen steht der Römerbrief hoch im Kurs und findet sich praktisch in jeder Hitliste der meistzitierten Bücher des Neuen Testamentes unter den Top 3, nicht selten auf Platz 1. In jedem Fall sind die von Martin Luther empfohlenen Bücher auf den besten Plätzen, während jene, die der Reformator schlecht redete, weit abgeschlagen auf den hinteren Rängen ihr abgewertetes Dasein fristen müssen und selten bis nie gelesen oder gar zitiert werden.

Das war für mich Jahrzehnte lang ein vertrautes Bild und teilweise auch meine Lese- und Lehrpraxis. So sind wir „modernen“ Christen eben unterwiesen und geprägt worden. Umso überraschter war ich, als ich entdeckte, wie völlig anders der Fokus der frühen Christen war. Kein einziger Vers aus dem Römerbrief befindet sich bei den Zitaten der frühen Christen unter den Top 20 des NT! Unter den Top 50 der frühen Christen hat der Römerbrief gerade mal 2 Verse. Der am meisten zitierte Vers der frühen Christen aus dem Römerbrief ist übrigens 8,11 (also ein heute eher wenig zitierter) und schafft es gerade mal auf Platz 40. Im Vergleich dazu: das von den frühen Christen mit Abstand meistzitierte Buch des Neuen Testaments ist das Matthäusevangelium, also just eines der Bücher, die Luther wortreich abwertete. Unter den Top 30 Versen aus dem Neuen Testament ist Matthäus bei den frühen Christen 19 mal gelistet, der Römerbrief kein einziges Mal. Das mag überraschen, wirft aber für jene, die beeinflusst durch Martin Luther, den Römerbrief als das bedeutendste Buch des NT sehen, ein neues Licht auf die Lesart und Wichtigkeit des Römerbriefes aus Sicht der Urgemeinde und des frühen Christentums.

Und sieht man sich die gegenständliche Stelle aus Römer 13 an, die heutzutage sehr oft und gerne zitiert wird, so sieht das Ranking bei den frühen Christen bescheiden aus: die daraus häufigst zitierten Verse (nämlich 1 und 4) landen auf Platz 344. Nicht, dass jetzt jemand glaubt, die frühen Christen seien vielleicht lesefaul gewesen oder hätten wenig zitiert. Nein, das trifft viel mehr auf die modernen Christen zu. Die Texte der frühen Christen sind bis an den Rand gefüllt mit Bibelversen, die Seiten triefen nur so von Zitaten aus der Heiligen Schrift, dass es teilweise schwindelerregend ist. Jemand hat ausgerechnet, dass man das komplette Neue Testament wiederherstellen könnte, allein aus den Zitaten der frühen Christen. Das kann man von der modernen christlichen Literatur leider nicht behaupten, die ist sehr dünn besiedelt von Bibelzitaten und wenn doch Bibelverse vorkommen, dann immer die selben aus den wenigen üblichen Büchern.

Erste Aussage, die man bedenken muss, ist also, dass der Römerbrief für die frühen Christen insgesamt nicht den großen Stellenwert hatte, den er heute bekommt, und die besagten Verse noch weniger Bedeutung hatten. Das sollte schon zu denken geben, weil es um nichts geringeres als die Hierarchie geht: welches Buch hat das letzte Wort und welches Buch muss sich anderen unterordnen? Hier weicht die Lehre der Apostel gravierend von allen anderen ab. 

Im Gegensatz zu Martin Luther zitierten die frühen Christen vorrangig die Evangelien von Matthäus und Lukas. An dritter Stelle rangiert übrigens der 1. Korintherbrief, also zwar ein Brief von Paulus, aber bezeichnender Weise gerade einer von denen, die Luther nicht lobte und hervorhob.

Daran knüpft die zweite Aussage, das es offensichtlich eine Verschiebung des Schwerpunktes in der Lehre des Christentums gegeben hat. So ist der Römerbrief nicht nur das bedeutendste biblische Lehrbuch heutzutage geworden, sondern auch das Substrat von praktisch allen Irrlehren im Christentum, die einzelne Passagen heraus lösen, falsch lesen und auch noch über alle anderen erheben. Genauso geschieht das auch mit besagter Stelle aus Kapitel 13.

Ich muss zugeben, dass es leicht ist, Römer 13 falsch zu verstehen und dass es einiges an Wissen benötigt, um diese Passage richtig zu lesen. Genau das schreibt aber schon Petrus

„In ihnen [den Briefen von Paulus] ist manches schwer zu verstehen, was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften, zu ihrem eigenen Verderben.“ (2.Petr. 3, 16)

Wie ich bereits weiter oben erwähnte, wundert mich, wie wenige Menschen heute Petrus ernst nehmen. Und noch mehr wundert mich, wie viele heute sogar gegen ihn argumentieren, wenn sie behaupten, dass Paulus leicht zu lesen wäre, und sogar Anfängern den Römerbrief empfehlen. Ich halte das für grob fahrlässig. Die faulen Früchte davon sieht man überall.

Warum aber ist Paulus so schwer zu verstehen? Und ich betone nochmal: schon zu Lebzeiten galt er als schwer zu verstehen und wurden die Worte von Paulus verdreht und damit Verderben angerichtet. Umso erstaunlicher ist, dass 2000 Jahre später Menschen glauben, sie würden Paulus ganz leicht verstehen. Sind die Menschen heute verständiger oder einfach nur eingebildeter? Petrus war jedenfalls sehr ehrlich und besorgt um die Leser von Paulus, daher warnte er sie. Man muss wissend sein, um Paulus nicht zu verdrehen. Das liegt mitunter an dem Schreibstil und der Rhetorik von Paulus.


Die Rhetorik von Paulus

Es ist bekannt, dass jeder Mensch seinen persönlich Stil hat zu reden, aber auch zu schreiben. Es gibt Experten (ich gehöre nicht dazu), die können aufgrund des Schreibstils den Autor nachweisen und umgekehrt auch Fälschungen enttarnen. Das wird in der Kriminalistik genauso angewandt wie in der Kunst und Geschichte. So hat man festgestellt, dass jeder biblische Autor seinen ganz persönlichen Wortschatz hat, der ihn von allen anderen unterscheidet. Matthäus verwendet Wörter (z.B. „Himmelreich“), die kein anderer benützt, das Gleiche gilt für Johannes (z.B. „Antichrist“) und alle anderen Autoren wie eben auch Paulus. Man kann sagen, jeder Autor hat seine Wörter und Satzbauten, an denen er erkannt werden kann. Aber genau das kann auch dazu führen, dass man ihn missversteht, wenn man seinen Code falsch interpretiert.

Bei Paulus ist es zum Beispiel so, dass er gerne verallgemeinert, übertreibt, und die selben Wörter in verschiedenen Zusammenhängen verschieden meint. Ein und dasselbe Wort kann bei Paulus verschiedene Bedeutungen haben. Es kommt bei Paulus besonders auf den Zusammenhang an, man muss wissen, warum er den Brief schreibt und warum er den jeweiligen Satz schreibt und an wen, und welchen Gedankengang er gerade verfolgt, sonst kommt man auf die falsche Spur. Hinzu kommt, dass Paulus gerne Gedankensprünge macht und Sätze eigenartig betont, sodass sie, wenn man sie anders betont, einen anderen Sinn ergeben. Das kommt, weil Paulus seine Briefe diktierte. Er ging im Raum auf und ab, sprach seine Gedanken laut vor sich hin, und genauso wurden sie Wort für Wort vom jeweiligen Schreiber nieder geschrieben. Aber man muss nicht nur Paulus kennen, sondern auch die Lehre der Apostel, um ihn richtig zu verstehen. Deswegen braucht es Wissende. Immerhin schrieb Paulus nie an Unwissende, in der Regel an seine eigenen Schüler, die er ja schon zuvor Jahre lang mündlich unterwiesen hatte und seinen Stil und seine Gedankengänge kannten. Lesen aber Unwissende oder schlecht Unterwiesene die Briefe des Paulus, führt das rasch zu Irrtümern, überhaupt heutzutage, wo die meisten Leser den wahren Kontext oft nicht kennen und stattdessen sich bemüßigt fühlen, die Worte von Paulus universal in jeden ihnen passenden Zusammenhang zu setzen. All das fällt bei Römer 13 schwer ins Gewicht. Es hat seinen guten Grund, warum der Heilige Geist jeden Leser durch Petrus vor den Paulusbriefen warnt.

Ich möchte nun anhand von einem Beispiel (ich hatte ursprünglich viel mehr vorbereitet, aber dann sagte mir eine innere Stimme, dass das alles zu viel ist und ich das besser an anderer Stelle nachreiche, vielleicht in einem Buch) zeigen, wie die Rhetorik von Paulus ist:

Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet. (2.Tim 3,16+17) 

Die ersten sechs Wörter kann man sehr unterschiedlich betonen, lesen und verstehen. Aber Paulus überlässt nicht jedem x-beliebigen Leser die freie Interpretation, sondern unterweist hier seinen Musterschüler Timotheus. Timotheus verstand den Lehrsatz genauso wie Paulus ihn meinte und nicht wie man ihn vielleicht sonst noch lesen und verstehen könnte. 

Heute kursieren die abenteuerlichsten Ideen über diesen Vers im Christentum. Manch einer denkt vielleicht, dass Paulus, wenn er „alle Schrift“ schreibt, zwangsläufig auch „alle“ Schrift meint, mit Betonung auf „alle“. Das ist doch immerhin ein eindeutiges Wort, oder? Würde man „alle“ wörtlich verstehen, wie das heute im deutschsprachigen Raum üblich ist, dann hätte Paulus gemeint, dass wirklich alles, was je geschrieben wurde, von Gott eingegeben sei. Jede Zeitung, jeder Roman, jedes Parteiprogramm, jedes Lehrbuch, jedes Wahlplakat, einfach alles, was geschrieben ist. Dann wäre also praktisch jedes Schriftstück von Gott inspiriert, das auf der Welt herum liegt, steht oder hängt. Andere meinen, das sei natürlich völliger Quatsch, Paulus meinte in Wahrheit nur die Bibel. Wiederum andere geben zu bedenken, dass Paulus das Wort „Bibel“ nicht benützte und er außerdem gar nicht alle Bücher, die heute in „der Bibel“ sind, kannte, wie konnte er die dann gemeint haben? Jeder dieser Gedanken hat etwas für sich, aber keiner fragt, was Paulus meinte. Es ist das moderne Problem: heutige Leser drehen sich um sich selbst und lesen Texte so, wie sie sie verstehen möchten, so als wären die Texte persönlich an sie geschrieben oder als hätten sie selbst sie geschrieben. Bei manchen Texten mag das ja durchaus spannend oder sogar erwünscht sein, bei von Gott eingegebenen aber keineswegs. Denn Gott teilt in Seinen Schriften Seine Sicht der Dinge mit; und dabei ist die Sicht des Lesers unerheblich, ja oft sogar hinderlich. Der Empfänger muss sich auf den Sender einstellen, nicht umgekehrt.

Betonen möchte ich, dass dieser Satz vielleicht einer der folgenschwersten ist, die Paulus je geschrieben hat. Denn Paulus spricht hier über von Gott eingegebene Schrift (welche Schrift genau er damit meinte, löse ich im nächsten Absatz auf), also inspirierte Schrift, denn mit „eingegeben“ ist inspiriert, wörtlich von Gott „eingehaucht“, gemeint. Heute gibt es viele Christen, die leugnen, dass es überhaupt von Gott inspirierte Schrift gibt. Und dann gibt es mehrere Schriften, die von sich behaupten, sie seien von Gott inspiriert, widersprechen aber einander eklatant. Zum Beispiel behaupten die einen, dass Jesus weder gekreuzigt, noch gestorben, noch auferstanden sei, andere Schriften bezeugen aber alle drei Geschehnisse als Wahrheit. Und dann soll hier Paulus scheinbar bestätigen, dass alle diese Schriften von Gott inspiriert sind? Kann das sein? Und wenn ja, welcher Gott haucht widersprüchliche Schriften ein, die einander widerlegen wollen? Das müsste ein widersprüchlicher Gott sein, einer, der Verwirrung und Chaos stiftet. Paulus schreibt und lehrt tatsächlich über Lügengeister, die Menschen viel Verkehrtes einflüstern, aber er bezeichnet diese niemals als Gott.

Was meinte nun Paulus? Er betonte das zweite Wort, nämlich Schrift. Er meinte damit „Schrift“ ist nur, was von Gott eingegeben ist, und gab Timotheus damit eine Wortdefinition, was er als „Schrift“ bezeichnen und verstehen dürfe. Das Griechische Wort, das Paulus hier schrieb, ist graphē (γραφή) und verwendete Paulus selbst konsequent immer nur in diesem Sinne. Und das ist in dem Fall keine Eigenart von Paulus, sondern gelebte Praxis aller Autoren des NT. Jeder kann das heute noch selbst in einem interlinearen (Griechischer Text Wort für Wort über Deutscher Übersetzung) Neuen Testament untersuchen: wo immer Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Paulus, Petrus und Jakobus das Wort graphē schrieben, ist allein die von Gott inspirierte Schrift gemeint! Paulus gibt hier also die Lehre der Apostel seinem Schüler Timotheus weiter. 

Das wäre auch eine wichtige Anweisung an alle heutigen Bibelübersetzer, nur das griechische Wort graphē konsequent mit „Schrift“ zu übersetzen und sonst kein anderes. Leider halten sich nicht alle daran, sodass der Sinn, den die Apostel hinter diesem Wort sahen, bereits durch verschiedene Übersetzungen unsichtbar wird und am Ende stellt sich die Frage, welchen Sinn eine von Gott inspirierte Schrift hat, wenn sie nicht von inspirierten Menschen übersetzt wird? Ebenso wie die Frage, warum wir heute das Wort „Bibel“ verwenden als Bezeichnung für das inspirierte Wort Gottes, das sich aber nicht von jenem Wort ableitet, das die Apostel - wie gerade beschrieben - für die von Gott inspirierte Schrift reservierten und auch nicht das Selbe bedeutet und schon gar nicht die selben Bücher beinhaltet, die die Apostel als von Gott inspiriert betrachteten? Lauter spannende Fragen, die wir an anderen Stellen behandeln, z.B. hier: Bibel.

Zurück zu dem Wortlaut, den heute viele falsch verstehen: Mir sagte mal ein Freund „Alle Autos sind von Mercedes“. Er war Mercedes-Fan und wollte mir damit sagen, dass in seinen Augen kein anderes Fahrzeug die Bezeichnung „Auto“ verdiene als nur ein Mercedes. Das ist exakt die Formulierung von Paulus. Den selben Hintergedanken hatte ein Kunde von mir, als ich ihn fragte, ob er auch Apple führe. Er war einer der größten Computerhändler der Stadt und es war in den 1990er Jahren als Apple noch weit davon entfernt war, die wertvollste Firma der Welt zu sein. Er antwortete trocken: „Nein, wir verkaufen nur Computer“. Damit wollte er mir sagen, dass in seinen Augen Geräte von Apple nicht die Bezeichnung „Computer“ verdienen. Beide Beispiele aus dem 20. Jh, haben den selben Hintergedanken wie Paulus im 1. Jh. und formulieren das auch ähnlich: sie verwenden ein von der Allgemeinheit breit verstandenes Wort eingeschränkt für einen bestimmten Sinn, und nur Insider wissen das. So wie nur die Angestellten meines Kunden wussten, dass sie Applegeräte nicht als Computer bezeichnen durften, so wussten alle Freunde meines Freundes, dass sie in seiner Gegenwart besser kein anderes Auto so nennen als nur einen Mercedes, und so wussten alle Apostel und deren Schüler, dass intern mit dem Wort „Schrift“ nur von Gott inspirierte bezeichnet wurde. Für alle anderen Bücher hatten sie andere Wörter, z. B. biblos (βίβλος), zu Deutsch „Buch“, von dem sich unser heutiges Wort „Bibel“ ableitet.

Warum führe ich das so breit aus? Weil es die selbe Bewandtnis mit dem Vers 1 von Römer 13 hat, wo Paulus schreibt:

Jedermann ordne sich den Obrigkeiten unter, die über ihn gesetzt sind; denn es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre; die bestehenden Obrigkeiten aber sind von Gott eingesetzt. 

Man kann diesen Vers genauso wie 2. Tim. 3,16 unwissend falsch lesen, oder aber so, wie Paulus ihn meinte. Inzwischen kennen wir Paulus schon ein bisschen besser. Auch hier benützt Paulus eine allgemein klingende Pauschalaussage und meint aber doch in Wahrheit eine sehr exklusive Einschränkung. Er betont  hier das Wort „Obrigkeit“ und definiert es genau wie vorher das Wort Schrift in Hinblick auf Gott. Diesmal ist es halt nicht die von Gott eingegebene Schrift, sondern die von Gott eingesetzte Obrigkeit. Selbes Prinzip, anderer Anlass. So wie es vorhin bei Timotheus völliger Quatsch war zu lesen, dass Paulus alle existierenden Schriften als von Gott eingegeben bezeichnen würde, genauso wäre es jetzt Quatsch zu meinen, dass Paulus alle existierenden Obrigkeiten als von Gott eingesetzt sehen würde. Interessant ist nur, dass beim Timotheusbrief das den meisten Lesern einleuchtet, beim Römerbrief jedoch nicht. Woran liegt das? Ein Grund wird wohl sein, dass der Römerbrief - wie ich bereits ausführte - derzeit praktisch eine Alleinstellung für viele Christen hat und ihnen gar nicht auffällt, dass Paulus ähnliche Formulierungen in anderen Briefen verwendet, an denen man aber leichter erkennen könnte, dass er es nicht so meint, wie es am ersten Blick scheint. 

So wie Paulus an Timotheus schreibt, dass er nur diese als „Schrift“ bezeichnen sollte, welche von Gott eingeben ist, so schreibt er nun den Römern, dass sie nur diese als „Obrigkeit“ sehen sollen, die von Gott eingesetzt ist. Oder anders ausgedrückt: jede Obrigkeit, die nicht von Gott eingesetzt ist, verdient die Bezeichnung „Obrigkeit“ nicht. Auch hier ist - wenig überraschend für die Lehre der Apostel - Gott allein der Maßstab. Gott bestimmt die Begriffe. Gott gibt vor, was Obrigkeit ist und was nicht.


Welche Obrigkeit ist von Gott eingesetzt?

An der Stelle wird es höchste Zeit, einen frühen Christen zu Wort kommen zu lassen. Chrysostomus schreibt zu eben zitiertem Vers 1:

Was sagst du da? Jede obrigkeitliche Person ist also von Gott eingesetzt? So meine ich das nicht, will der Apostel sagen; ich spreche jetzt nicht von jeder einzelnen obrigkeitlichen Person, sondern von der Obrigkeit im allgemeinen. Daß es überhaupt obrigkeitliche Personen, daß es Herrscher und Untertanen gibt, daß nicht alles drunter und drüber geht, daß die Völker nicht wie Meereswogen hin- und hergetrieben werden, das, sag’ ich, ist ein Werk der Weisheit Gottes. Darum sagt er nicht: „Denn es gibt keine obrigkeitliche Person außer von Gott“, sondern von der Einrichtung spricht er, wenn er sagt: „Denn es gibt keine Obrigkeit außer von Gott.“

„Die Obrigkeiten aber, die bestehen, sind von Gott angeordnet.“

— So will auch jener Weise, wenn er sagt: „Von Gott ist das Weib dem Manne verbunden“, sagen, daß Gott die Ehe eingesetzt hat, nicht daß er jeden, der mit einem Weibe beisammen ist, selbst mit ihm verbindet. Wir sehen ja viele, die sündhafterweise und doch nach Ehegesetz miteinander beisammen sind, und können dies doch wohl nicht Gott zuschreiben. Der Weise will an jener Stelle nur dasselbe sagen, was Christus einmal gesagt hat: „Der von Anfang die Menschen schuf, hat sie als Mann und Weib erschaffen“, und weiter: „Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen“. Weil Gleichheit im Range oft Anlaß zu Streit gibt, so hat Gott verschiedene Obrigkeits- und Untertänigkeitsverhältnisse festgelegt, wie: zwischen Mann und Weib, zwischen Sohn und Vater, zwischen Greis und Jüngling, zwischen Sklave und Freiem, zwischen Herrscher und Untertan, zwischen Lehrer und Schüler. Was Wunder, daß das in der menschlichen Gesellschaft so ist, da doch Gott dasselbe beim menschlichen Körper so eingerichtet hat! Er hat an demselben nicht allen Gliedern den gleichen Rang gegeben, sondern das eine weniger vornehm, das andere vornehmer geschaffen. (Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Briefe des Paulus an die Römer (BKV), VIERUNDZWANZIGSTE HOMILIE )

Chrysostomus hatte nicht nur den Vorteil, dass er Paulus in der Originalsprache las und in Gemeinden aufwuchs, die von Paulus gegründet und von Apostelschülern geleitet wurden, sondern er war mit der Lehre der Apostel bestens vertraut. Er kannte die Hintergründe und Paulus selbst viel besser als wir heute, die in ganz anderen Gebieten und ganz anderen Sprachen und ganz anderen Gemeinden leben. Und offensichtlich konnte Chrysostomus auch noch besser lesen als der durchschnittliche Bibelleser heute, muss ich beschämend erkennen. Denn welchem Leser fallen heute diese Feinheiten auf, die Chrysostomus ins Treffen führt? Etwa, dass Paulus nicht von obrigkeitlichen Personen spricht, sondern von der Obrigkeit als Prinzip? Gott setzt eben nicht einzelne Personen als Obrigkeit ein, sondern hat das Prinzip Obrigkeit erschaffen und eingeführt. Und dieses Prinzip - oder Einrichtung, wie Chrysostomus schreibt - hat Gott in Seiner ganzen Schöpfung angelegt, es ist das Konzept der Ordnung durch Unterordnung. Gott hat klare Hierarchien geschaffen, um Ordnung zu schaffen, wie Chrysostomus korrekt aufzählt: den Mann als Obrigkeit über die Frau, die Eltern über die Kinder, die Alten über die Jungen, den Herrn über den Sklaven, den König über das Volk, den Lehrer über den Schüler. Das sind die Obrigkeiten, die Gott eingesetzt hat, diese sind die Ordnung Gottes.

Wem fällt auf, dass diese Ordnung Gottes von modernen Menschen abgelehnt wird?

Wem fällt auf, dass die Menschen sich im Laufe der Zeit völlig andere Obrigkeiten gewählt und eingesetzt haben, die sich gegen die von Gott eingesetzten Obrigkeiten erheben und diese abschaffen möchten oder schon längst abgeschafft haben und aber behaupten, diese - gegen Gottes Obrigkeit gerichteten Obrigkeiten - wären nun von Gott eingesetzt? Doch exakt dagegen richtet sich in Wahrheit die Anweisung von Paulus.

Paulus besteht aber darauf, dass nur die von Gott eingesetzten Obrigkeiten als solche bezeichnet und behandelt werden. Das griechische Wort, das Paulus an der Stelle benützt, bedeutet wörtlich „Autorität“ oder „Macht“ und wird im Neuen Testament über 100 Mal verwendet (in Röm. 13,1 gleich 3 mal) und ausnahmslos im genannten Sinn, nämlich eine von oben verliehene Macht oder Autorität. Davon sind die heutigen Christen aber weit entfernt. Sie betrachten Menschen, die sich selbst oder von unten Macht verliehen haben als Obrigkeiten, die von Gott gegeben seien. Es verhält sich in Wahrheit wie mit dem Götzendienst: Menschen erfinden sich eigene Götter und fordern andere auf, diese als Götter anzubeten. Doch es sind nur Scheingötter. So ist es mit allen Obrigkeiten, die Menschen sich selbst ausdenken und einsetzen. Tertullian zieht in seinem Buch „Über den Götzendienst“ übrigens genau diesen Vergleich:

Was also die Ehrenbezeigungen für Könige oder Imperatoren betrifft, so ist uns genugsam vorgeschrieben, den Obrigkeiten, Fürsten und Mächten untertan zu sein, jedoch innerhalb der Grenzen der Moral, insoweit wir dabei von der Idololatrie (Bilderverehrung, -anbetung, Götzendienst) frei bleiben. Dafür haben wir aus alter Zeit das Beispiel der drei Brüder, die, obwohl sonst dem König Nebukadnezar gehorsam, seinem Bilde Ehrenbezeigungen aufs standhafteste verweigerten, indem sie behaupteten, alles sei Idololatrie, was sich über das Maß menschlicher Ehren hinaus zur Gleichheit mit der göttlichen Majestät erhebt. Ähnlich blieb auch der im übrigen dem Darius anhängliche Daniel nur so lange im Dienste, als er von Verstößen gegen die Moral frei sein durfte. Denn sich dazu zu verstehen, konnte ihn ebenso wenig die Furcht vor den Löwen des Königs verleiten, wie sein Feuerofen die drei Jünglinge. (Tertullian, Über den Götzendienst, Kap 15)

Tertullian nennt hier einen sehr wichtigen Punkt, den heute leider allzuviele übersehen: wir müssen unterscheiden, ob es sich um göttliche oder menschliche Autoritäten handelt. Denn wenn wir menschliche Obrigkeiten gleichstellen mit göttlichen, indem wir ihnen den gleichen Gehorsam und die gleiche Ehre erweisen, dann begehen wir Götzendienst und erregen Gottes Zorn und Strafe. Die Heilige Schrift ist voll von warnenden, abschreckenden aber auch vorbildlichen Beispielen. Zwei vorbildliche aus dem AT erwähnt Tertullian: die drei Männer, die sich ihrer Obrigkeit widersetzten, weil diese sich zu einer göttlichen aufblähte, und dafür von ihr in den Feuerofen geworfen wurden; und Daniel, der sich ebenfalls von einer menschlichen Obrigkeit nicht verbieten ließ zu Gott zu beten und dafür in die Löwengrube geworfen wurde. Beide Geschichten sind uns aufgeschrieben, damit wir lernen mit Obrigkeiten richtig umzugehen und deren Grenzen zu kennen und ihnen diese auch im Fall des Falles aufzuzeigen. Übrigens handelt es sich in beiden Fällen um von Gott eingesetzte Obrigkeiten, nämlich Könige. Aber auch die dürfen nicht alles, was Gott darf. Gott hat jede Obrigkeit, die er einsetze, mit Rechten und Pflichten ausgestattet und setzte ihr Grenzen. Zu keiner Zeit darf uns eine Obrigkeit gegen auch nur das kleinste Gebot Gottes verstoßen lassen oder auch nur dazu verleiten.


Die Lektion von Jesus

Jedes Gebot Gottes steht über jedem Gebot der Menschen. Das demonstrierte niemand geringerer in der Schrift als der Sohn Gottes persönlich. Hier nur ein Beispiel:

Da kamen die Schriftgelehrten und Pharisäer von Jerusalem zu Jesus und sprachen: Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Alten? Denn sie waschen ihre Hände nicht, wenn sie Brot essen.

Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Und warum übertretet ihr das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen? Denn Gott hat geboten und gesagt: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!« und: »Wer Vater oder Mutter flucht, der soll des Todes sterben!« Ihr aber sagt: Wer zum Vater oder zur Mutter spricht: Ich habe zur Weihegabe bestimmt, was dir von mir zugutekommen sollte!, der braucht auch seinen Vater oder seine Mutter nicht mehr zu ehren. Und so habt ihr das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen aufgehoben. Ihr Heuchler! Treffend hat Jesaja von euch geweissagt, wenn er spricht: »Dieses Volk naht sich zu mir mit seinem Mund und ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir. Vergeblich aber verehren sie mich, weil sie Lehren vortragen, die Menschengebote sind.« (Mt. 15,1-9)

Die wahren Nachfolger Christi haben sich damals nicht die Hände gewaschen wie es die Obrigkeit und der Rest der Gesellschaft verlangte, und so konnte Jesus ihnen allen und uns heute eine Lektion erteilen. Er war nicht bereit, ein an und für sich harmloses Menschengebot zu befolgen, das Teil eines Konvoluts („Die Überlieferung der Alten“) war, das die Gebote Gottes aufhob. Es geht nicht immer darum, dass nur das nicht getan wird, was ausdrücklich per Gesetz verboten ist. Das führt Jesus im Anschluss noch genauer aus. Es geht um die Herzenshaltung. Wir dürfen keine Heuchler werden, die sich äußerlich christlich geben und gläubig fühlen, im Herzen aber den eigenen menschlichen Weg und Vorteil verfolgen. Das beginnt beim Befolgen menschlicher Anordnungen, Denkweisen oder Maßnahmen, die die Herzen der Menschen von Gott und Seinem Gesetz weg lenken. In Wahrheit wollen beide unser Herz gewinnen: Gott und die Welt. Doch „niemand kann zwei Herren dienen“, wie Jesus lehrte. Auch diese Worte Christi nahmen die wahren Christen stets ernst, während man die falschen daran erkannte, dass sie geteilten Herzens waren und es jedem Recht machen wollten, obwohl Christus sagte, dass das niemand kann. Und noch eine wichtige Lektion erteilte Jesus Christus Seinen Nachfolgern: Bald nach der Begebenheit mit dem Händewaschen schickte die Obrigkeit eine Delegation zu Jesus, um Ihm in der Öffentlichkeit eine Falle zu stellen, mit der Frage, ob es recht sei, dem Kaiser Steuer zu zahlen. Jesu weise Antwort brachte es zu einem Sprichwort:

„Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Mt. 22,21)

Dieses Herrenwort zitierten die frühen Christen deutlich häufiger als jeden Vers aus Römer 13. Und wenn sie Römer 13 zitierten, dann gewöhnlich im Zusammenhang mit eben diesem Herrenwort. Haben die frühen Christen damit Römer 13 aus dem Kontext gerissen? Nein! Ganz im Gegenteil, sie haben den Abschnitt damit im eigentlichen, wahren Kontext zitiert, den Paulus am Schluss wie ein Pfeil ins Ziel trifft: 

Deshalb zahlt ihr ja auch Steuern; denn sie sind Gottes Diener, die eben dazu beständig tätig sind. So gebt nun jedermann, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer, Zoll, dem der Zoll, Furcht, dem die Furcht, Ehre, dem die Ehre gebührt.

Nach einigen theoretischen Argumenten kommt Paulus nun zum praktischen Schluss, den jeder frühe Christ nicht nur kannte und befolgte, sondern auch automatisch mit den Worten von Jesus Christus im Zusammenhang las:

Beispiel 1:

„Man muss aber dem Kaiser geben, was des Kaisers ist.„ -- Zum Glück steht dabei: „Und Gott, was Gottes ist“. Also was gebührt dem Kaiser? Natürlich das, um was es sich damals bei Stellung der Frage handelte, ob man dem Kaiser Tribut geben dürfe oder nicht. Deshalb verlangte der Herr auch, man solle ihm eine Münze zeigen, und fragte, wessen Bild das sei, und da er die Antwort bekam: „Des Kaisers“, sagte er: „Also gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, d.h. das Bild des Kaisers, welches sich auf der Münze findet, dem Kaiser, und das Ebenbild Gottes, das sich im Menschen findet, Gott, so dass du dem Kaiser dein Geld gibst, Gott aber deine Person. Andernfalls aber, wenn dem Kaiser alles gehört, was wird für Gott übrig bleiben? (Tertullian, Über den Götzendienst, Kap. 15)

Beispiel 2:

Sodann fährt er fort und gibt an, wie du nach seiner Lehrmeinung den Gewalten Untertan sein sollst, indem er dich Steuer geben heißt, wem Steuer gebührt, und Zoll, wem Zoll, d. h. „dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“; der Mensch aber gehört Gott allein zu. So hatte nämlich auch Petrus gesagt: „Daß man den König zwar ehren müsse“, doch so, daß er als König geehrt werde, wenn er bei seinen Angelegenheiten bleibt und sich vom Verlangen nach göttlicher Ehre fernhält. Auch Vater und Mutter sollen geliebt werden mit Gott, nicht aber ihm gleichgestellt werden; übrigens mehr als Gott darf man nicht einmal seine eigene Seele lieben. (Tertullian, Arznei gegen Skorpionstich, 14. Kap. Das Martyrium streitet nicht gegen den Gehorsam, den man der Obrigkeit nach Röm. 13, 1-4 schuldet.)

Beispiel 3:

Abgaben und Steuern suchen wir überall vor allen anderen euren Beamten zu entrichten, wie wir von ihm angeleitet worden sind. Denn in jener Zeit kamen einige und fragten, ob man dem Kaiser Steuern entrichten solle. Und er antwortete: „Saget mir: Wessen Bild trägt die Münze?“ Sie sprachen: „Des Kaisers“. Und da entgegnete er ihnen: „Gebet denn, was des Kaisers ist, dem Kaiser und was Gottes ist, Gott“. Darum beten wir zwar Gott allein an, euch aber leisten wir im übrigen freudigen Gehorsam, indem wir euch als Könige und Herrscher der Menschen anerkennen und beten, daß ihr nebst eurer Herrschermacht auch im Besitze vernünftiger Einsicht erfunden werdet. Wenn ihr aber trotz dieser offenen Darlegung euch um uns nicht kümmert, so werden nicht wir den Schaden davon haben; denn wir meinen und sind sogar fest davon überzeugt, daß jeder, sofern seine Taten es verdienen, im ewigen Feuer seine Strafe finden und nach Maßgabe der ihm von Gott verliehenen Gaben von ihm zur Rechenschaft werde gezogen werden, wie Christus es angekündigt hat, als er sagte: „Wem Gott mehr gegeben hat, von dem wird auch mehr gefordert werden“. (Justin der Märtyrer, 1.Apologie, Kapitel 17)

Es ist kein Zufall, dass die frühen Christen Römer 13 immer im Zusammenhang mit den Worten Jesu lasen und jenen unterordneten, denn der Schüler steht nie über seinem Lehrer. Jesus ist der Meister von Paulus, nicht umgekehrt. Deswegen lasen sie Paulus immer untergeordnet unter dem Meister Christus, und allein schon dadurch zeigten sie, dass sie die von Gott eingesetzte Obrigkeit besser verstanden und ehrten als viele spätere Christen, die Paulus über Jesus stellen indem sie Worte von Paulus verwenden um Worte von Jesus abzuschwächen oder gar aufzuheben so wie schon die Pharisäer Menschengebote benutzten um die Gebote Gottes aufzuheben.

Für die frühen Christen war klar, dass dem Kaiser die Steuern gehören und der Rest, nämlich alles andere, aber Gott. Und nur so konnten sie sich geschlossen allen gotteslästerlichen Gesetzen des Kaisers widersetzen. Zum Beispiel beteiligte sich kein früher Christ an Kriegen sondern verweigerten alle den Kriegsdienst. Soldaten - und waren es auch ranghohe - die Christen wurden, quittierten sofort den Dienst oder legten zumindest ihre Waffen ab um nur noch friedliche Dienste im Militär zu übernehmen. Andernfalls wären sie nie in eine christliche Gemeinde aufgenommen worden. Darüber gibt es einige Berichte, manche wurden sogar Legenden, wie etwa jene des Heiligen Martin, die jedes Jahr von Kindern am Martinstag (11. November) nachgespielt wird.


Eine Lektion von Paulus

Auch Paulus widersetzte sich immer wieder der weltlichen Obrigkeit. Brach er dadurch seine eigene Lehre? Nein! Er bestätigte sie damit. Etwa bei jener Begebenheit:

Da sah Paulus den Hohen Rat eindringlich an und sprach: Ihr Männer und Brüder, ich habe mein Leben mit allem guten Gewissen vor Gott geführt bis zu diesem Tag.

Aber der Hohepriester Ananias befahl den Umstehenden, ihn auf den Mund zu schlagen.

Da sprach Paulus zu ihm: Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand! Du sitzt da, um mich zu richten nach dem Gesetz, und befiehlst, mich zu schlagen gegen das Gesetz?

Die Umstehenden aber sprachen: Schmähst du den Hohenpriester Gottes?

Da sprach Paulus: Ich wusste nicht, ihr Brüder, dass er Hoherpriester ist, denn es steht geschrieben: »Über einen Obersten deines Volkes sollst du nichts Böses reden«. (Apg. 23,1-5)

Paulus werden von der Obrigkeit Schläge ausgeteilt und der wehrt sich mit Worten dagegen, wobei er nicht mit Beleidigungen spart. Wie viele Christen würden das heute wagen und sich dabei auch noch „christlich“ fühlen? Paulus tat es. Aber nur, weil er nicht wusste, dass es der amtierende Hohepriester persönlich war, der die Schläge anordnete. Das ist ein interessanter Aspekt an der Geschichte, der Aufschluss darüber gibt, dass der Hohepriester zur Zeit Paulus nicht so eingesetzt wurde, wie Gott es befahl im Gesetz Moses. Aber das ist ein anderes Thema, das ich hier nicht auch noch ausbreiten möchte. Als Paulus es erfuhr, zeigt er sich einsichtig indem er eine Stelle aus der Schrift zitierte, die es ihm verbietet, eine von Gott eingesetzte Obrigkeit (und das war der Hohepriester als Instanz prinzipiell immer noch, auch dann, wenn die einzelne Person damals längst gegen die Bestimmungen Gottes von Menschen eingesetzt wurde) zu schmähen. Er bittet aber weder um Vergebung, noch nimmt er seine Rede zurück, noch schweigt er fortan untertänig, sondern ergreift ganz im Gegenteil die Initiative um seine Verteidigung zum Höhepunkt zu bringen, der in einem Streit zwischen den zwei Parteien des Hohen Rates gipfelt, der so brutal und lebensbedrohlich für Paulus wird, dass der römische Oberst seinen Soldaten befiehlt, Paulus in Schutzhaft zu nehmen. Und genau das ist eine der Hauptaufgaben aller Obrigkeiten, die von Gott eingesetzt sind: sie sollen die Guten schützen und für ein gerechtes, vernünftiges Gerichtsurteil abseits von Empörung, Aufruhr, Hass, Lärm und Selbstjustiz sorgen.

Deswegen schreibt Paulus: 

Denn sie ist Gottes Dienerin, zu deinem Besten. Tust du aber Böses, so fürchte dich! Denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; Gottes Dienerin ist sie, eine Rächerin zum Zorngericht an dem, der das Böse tut. (Röm. 13,4)

Dieser Vers wird seit jeher gerne missbraucht um jegliche Staatsgewalt gegen das eigene Volk oder andere Völker zu rechtfertigen. Die USA teilen seit zwei Jahrhunderten die Welt in Freunde und Schurkenstaaten ein und überfallen letztere regelmäßig und meinen, das würde mit ihren christlichen Werten harmonieren, denn Gott hätte ihnen das Schwert nicht umsonst gegeben, sondern zum Zorngericht gegen das Böse. So spielen sie ihre Rolle als Weltpolizei mit aller militärischer, finanzieller und medialer Gewalt. Aber wer hat ihnen diese Rolle gegeben und wer legt fest, was böse ist? Und hat Paulus das überhaupt so gemeint? 


Das Zeugnis der frühen Christen

Auch die frühen Christen kannten und zitierten diesen Vers (Römer 13,4 - siehe voriges Kapitel), aber immer in dem Sinne, auf den Paulus hinaus will: Die von Gott eingesetzte Obrigkeit hat von Gott das Schwert bekommen, um ihre bösen Untertanen zu strafen. Beides bezieht sich aber auf Gott. Sowohl die eingesetzte Obrigkeit als auch die Beurteilung, wer oder was böse ist. Weder bekamen die Menschen von Gott je das Recht sich selbst Obrigkeiten zu wählen, noch selbst zu definieren was böse ist. Aber beides nahmen und nehmen sich die Menschen seit jeher wie selbstverständlich heraus und handeln sich damit in Wahrheit nicht Gottes Rückendeckung, sondern vielmehr Gottes Zorn und Fluch ein:

Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die Finsternis zu Licht und Licht zu Finsternis erklären, die Bitteres süß und Süßes bitter nennen! (Jes. 5,20)

Und abermals:

Wehe denen, die ungerechte Gesetze erlassen, und den Schreibern, die bedrückende Vorschriften schreiben (Jes. 10,1)

Dass es Obrigkeiten gibt, die ungerechte Gesetze erlassen und das, was Gott böse nennt, gut nennen und mit Staatsgewalt fördern, wohingegen sie das, was Gott gut nennt aber böse nennen und mit Staatsgewalt verfolgen, ist kein Geheimnis. Es ist heutzutage sogar schon der Normalfall, würde ich meinen. Beinahe jeder Politiker, Ethiker, Ideologe, Journalist und Thinktank bezeichnet heutzutage das als böse, was Gott in der Heiligen Schrift als gut bezeichnet und umgekehrt. Das ist die neue Normalität im 21. Jahrhundert. Die Mehrheit der „Christen“ gibt diesen gottlosen Menschen bei Wahlen ihre Stimme und übernimmt deren Meinung. Aber wie ist aus echter christlicher Sicht mit solchen Obrigkeiten umzugehen?

Jesus, Petrus und Paulus waren in dieser Frage nicht nur Vorbilder sondern lehrten auch einiges, was uns aufgeschrieben wurde, zu dem Thema. Sie alle litten unter ungerechten, gottlosen Obrigkeiten (die sich selbst aber in der Regel als gut und gottgefällig gesehen haben) und wurden am Ende von ihnen auch hingerichtet. Dennoch fügten sie sich alle dem ungerechten Staatszwang - bis zu einer gewissen Grenze - und gaben damit die Richtung vor für alle treuen Nachfolger der folgenden Generationen.

So waren sie alle der einmütigen Gesinnung, dass sie niemals zu Waffen greifen durften, weder für ihre eigene Sache, noch für die des Staates. Kriege fanden in den ersten 3 Jahrhunderten gänzlich ohne Teilnahme der Christen statt. Erst seit Augustinus, der eine völlig neue Theologie einführte, zogen Christen in den Krieg, insbesondere auch durch Neudeutung von Stellen wie Römer 13. Um das in aller Ausführlichkeit darzulegen, ist hier kein Platz. Wir haben einen eigenen Beitrag dazu: Krieg. Noch ausführlicher behandelt David Bercot das in seinen Büchern, zum Beispiel in dem hervorragende Buch „Würden die Theologen sich bitte setzen“, in dem er einen eigenen Abschnitt („Gewalt und Krieg“, Kapitel 12) diesem Thema widmet und viele Zitate aus dem frühen, mittleren und späteren Christentum gegenüberstellt.

Die frühen Christen betrachteten Jesus Christus als absolutes Vorbild in allen Dingen, Er war der Goldstandard. Deswegen ahmten sie auch Seinen Umgang mit der Obrigkeit nach. Etwa wie Jesus sich Seinen leiblichen Eltern als Zwölfjähriger noch unterordnete (Lk. 2,51) obwohl Er wusste, dass Sein Vater im Himmel bereits andere Ansichten hatte, doch als Erwachsener tadelte Er Seine Mutter in aller Öffentlichkeit wiederholt (Joh. 2,4. Mt 12,48-50). Oder als Er, wie schon weiter oben erwähnt, sich dagegen sträubte sich die Hände zu waschen vor dem Essen, wie es die Obrigkeit mittels der Überlieferung der Alten verlangte. Jesu Konter ist übrigens wie immer aufschlussreich: Er hält der menschlichen Obrigkeit eine von Gott eingesetzte Obrigkeit vor Augen: nämlich Vater und Mutter, und zitiert Gottes Gesetz, das heute auch oft falsch verstanden bzw. gelehrt wird, nämlich so, als ginge es bei „Vater und Mutter ehren“ nur um Respekt. Das ist aber nur halbrichtig. Vielmehr gebietet Gott auch finanzielle Unterstützung mit diesem Gebot. Das hatten die Juden schon richtig verstanden, umgingen das aber durch ihre - wie sie meinten fromme - Rechtsauslegung, indem sie sagten, das Geld, das Vater und Mutter zustünde, könne man Gott weihen indem man es Menschen gibt, die für Gott arbeiteten, wie etwa die Pharisäer oder das Tempelpersonal. Jesus verurteilt diese Rechtsauffassung aber scharf, wie schon weiter oben zitiert, und nimmt sie zum Anlass, sich gar nicht an die Überlieferung der Alten zu halten, denn Er will nicht unterstützen, dass Menschengebote über Gottes Gebot gestellt werden. Und das ist der Knackpunkt, den Seine wahren Jünger gut verstanden und später konsequent gelebt haben.

Zum Beispiel Petrus und Johannes, als sie vom Hohen Rat ein strenges Predigtverbot erteilt bekamen unter Androhung harter Strafen. Hielten sie sich an dieses Verbot? Nein, natürlich nicht! Vielmehr entgegneten sie selbstsicher:

„Entscheidet ihr selbst, ob es vor Gott recht ist, euch mehr zu gehorchen als Gott!“ (Apg. 4,19)

und ein zweites Mal, als der Hohe Rat sie erneut zur Rede stellte:

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apg. 5,29).

Diese klare Hierarchie, die der gesunden Lehre entspricht, hielten und forderten alle frühchristlichen Lehrer ein.

So lesen wir in den Apostolische Konstitutionen folgende Anweisungen „Über den Gehorsam gegen die weltliche Obrigkeit“:

In gottgefälligen Dingen seid allen Königen und Herrschern untertan als Dienern Gottes und Züchtiger der Gottlosen. Leistet ihnen völlig die schuldige Furcht, alle Abgaben, Zölle, Ehrenbezeugungen, Reichnisse und Steuern; denn das ist göttliche Anordnung, Niemandem etwas schuldig zu bleiben, als den Erweis der Liebe, wie Gott durch Christus angeordnet hat. (Apostolische Konstitutionen und Kanones, Viertes Buch, Kapitel 13. Über den Gehorsam gegen die weltliche Obrigkeit.)

Auch hier herrscht noch völliger Einklang mit dem Zusammenhang, in dem der Herr Jesus predigte, nämlich die Abgaben von Steuern, Zöllen und dergleichen. Und immer nur eine Untertänigkeit unter weltlichen Herrschern in gottgefälligen Dingen, ganz nach den Aussagen von Petrus und Johannes vor dem Hohen Rat.

Tertullian zitierte ich bereits weiter oben. Hier möge zum Abschluss noch einer der frühesten frühen Christen zu Wort kommen, nämlich ein persönlicher Schüler des Apostel Johannes: Polykarp von Smyrna war der Bischof von Smyrna, der Gemeinde, die Jesus in der Offenbarung (2, 8-11) ausschließlich lobte, und wurde nach einem langen treuen, vorbildlichen Leben im Greisenalter von den Römern brutal gefoltert und öffentlich hingerichtet. Davor fand ein öffentliches Verhör durch den Prokonsul statt:

Als er aber aufs neue in ihn drang und sagte: „Schwöre beim Glücke des Kaisers“, antwortete er: „Wenn du dir mit dem Gedanken schmeichelst, ich würde, wie du es nennst, beim Glücke des Kaisers schwören, und dich stellst, als wüßtest du nicht, wer ich bin, so höre mein freimütiges Bekenntnis: Ich bin ein Christ. Willst du aber die Lehre des Christentums kennen lernen, so bestimme mir einen Termin zur Aussprache“. Der Prokonsul sagte: „Rede dem Volke zu!“ Polykarp antwortete: „Dich habe ich einer Erklärung für würdig gehalten; denn man hat uns gelehrt, den von Gott gesetzten Obrigkeiten und Gewalten die gebührende Ehre zu erweisen, wenn sie uns (unserm Gewissen) keinen Schaden bringt; jene aber (das Volk) halte ich nicht für wert, mich vor ihnen zu verteidigen.“ (Apostolische Väter, Martyrium des Polykarp, Kap 10)

Das Martyrium des Polykarp ist in einem ausführlichen Brief überliefert worden, ist in voller Länge auf unserer Website am Ende der Biographie von Polykarp von Smyrna nachzulesen, und führte übrigens zu dem Begriff Märtyrer. Hier will ich nur zeigen, wie Polykarp, der vorbildliche Gemeindevorsteher, mit der weltlichen Obrigkeit umging, und wie er vor allem den Satz von Paulus verstand und lehrte, man solle Ehre geben dem, dem Ehre gebührt. Erstens schließt Polykarp im selben Atemzug mit dem Gebot der Ehrerbietung auch gleich deren Grenze mit ein (wenn sie unserem Gewissen keinen Schaden bringt) und zweitens ehrt er den Prokonsul damit, dass er ihm eine private Audienz anbietet, wo er ihm all die Fragen abseits der Öffentlichkeit beantworten will. Warum abseits der Öffentlichkeit? Weil diese nicht würdig ist, die Antwort zu hören. Welch ein freimütiges Zeugnis und welche Treue zu den Worten Seines Herrn und Königs Jesus Christus, der doch gebot, immer zu prüfen, ob jemand es wert sei (Mt. 10,11).

Hier sind wir wieder am Anfang angelangt: die frühen Christen isolierten niemals irgendeinen Abschnitt von Paulus, sondern lasen alle Schrift immer in Harmonie und unter der Herrschaft von Jesus Christus, der der Anfang und das Ende ist, der Eckstein, der König, der Allherrscher, und das Wort selbst. Deswegen waren die Herrenworte für sie der absolute Maßstab dem sich alles unterzuordnen hatte und daher zitierten sie die Evangelien und allen voran Matthäus viel häufiger als Paulus und lebten diese mit jeder Faser ihres Körpers bis in den Tod.


Fazit

Die frühen Christen gehorchten erstens nur von Gott gegeben Obrigkeiten und zweitens nur soweit es ihnen ihr gutes Gewissen erlaubte, das von ihrem Glauben geprägt war. Sie folgten kompromisslos dem Vorbild von Jesus und Seinen Aposteln bis in den Tod. Dabei stellten sie immer Jesus Christus und dessen Worte und Lehre über alle anderen. Die Evangelien und speziell die Bergpredigt darin waren der Maßstab, an dem jede andere Schrift und Lehre gemessen wurde. Sie beschränkten daher ihre Untertanenpflicht hauptsächlich auf das Zahlen von Steuern und Beten für die Obrigkeit und lebten ansonsten ausschließlich nach den Gesetzen Gottes, die schon damals oft im Konflikt mit den weltlichen Gesetzen standen. Deswegen erregten die frühen Christen in der Welt immer wieder Anstoß, von der sie sich auch bewusst absonderten. Daher wurden sie, nur weil sie Christen waren, von den Obrigkeiten verfolgt, verurteilt und getötet. Das geschieht auch heute noch in manchen Ländern.

In den meisten Fällen ist es heute aber wohl eher so, dass „Christen“ wegen eines falschen Glaubens sterben, nämlich dann, wenn sie von ihrem Glauben getrieben in den Krieg ziehen, nicht selten gegen andere „Christen“ (wie aktuell wieder in der Ukraine), und dort fallen. Und damit verstoßen sie in Wahrheit gegen das, was Paulus in Römer 13 eigentlich meinte und sowieso gegen das Gebot Christi. Und das ist tragisch, denn Christus wird am Ende das letzte Wort haben, jedermanns Früchte beurteilen und alle Gesetzlosen fortjagen. Besonders schlimm treffen wird es gerade jene, die ihr Leben lang glaubten, sie seien „Christen“, sich aber nicht den wirklich von Gott eingesetzten Obrigkeiten unterordneten, sondern lieber den selbstgewählten Regimen gehorsam waren:

An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Sammelt man auch Trauben von Dornen, oder Feigen von Disteln? So bringt jeder gute Baum gute Früchte, der schlechte Baum aber bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen, und ein schlechter Baum kann keine guten Früchte bringen. Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum werdet ihr sie an ihren Früchten erkennen. Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Reich der Himmel eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut. Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt und in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen viele Wundertaten vollbracht? Und dann werde ich ihnen bezeugen: Ich habe euch nie gekannt; weicht von mir, ihr Gesetzlosen! (Mt. 7,16-23)