Das Wort Bibel kommt in der Bibel nicht vor und ist daher nicht biblisch.

Das klingt jetzt vielleicht seltsam - und ist es auch. Denn es stellt sich automatisch die Frage, warum verwenden heute praktisch alle Christen dieses Wort wie selbstverständlich, während es die ersten Christen und allen voran die Autoren der „Bibel“ selbst nicht taten? Und dürfen dann „bibeltreue“ Christen überhaupt das Wort „Bibel“ verwenden? Diesen und anderen, mitunter noch peinlicheren, Fragen werden wir hier auf den Grund gehen.

Im Allgemeinen wird erzählt, dass unser heutiges Wort „Bibel“ sich vom griechischen Wort „biblia“ abgeleitet hat und dieses käme schon in der „Bibel“ vor. Die Frage ist aber, in welchem Sinn kommt es vor, und wann wurde daraus „Bibel“ und warum?

Dazu ein kurzer Ausflug ins Griechische. Biblia (βιβλία) ist die Mehrzahl von biblion (βιβλίον) und ist die diminutive Form von biblos (βίβλος). Biblos bezieht sich auf das innere Rindenmaterial der Papyrusstaude, das in der Antike als Schreibmaterial verwendet wurde. Die Stadt Byblos war ein wichtiger Handelsplatz für Papyrus, was dazu führte, dass der Name der Stadt mit dem Schreibmaterial assoziiert wurde. Alle diese Begriffe bezeichnen also das Material auf dem etwas geschrieben steht, nicht aber den Inhalt, der geschrieben wurde und wurden ursprünglich als Bezeichnungen für Schriftrollen der verschiedenen Größen verwendet: Biblos die große Schriftrolle, biblion die kleine Schriftrolle. Eine noch kleinere Schriftrolle hieß bibliaridion (βιβλιαρίδιον). Seit es Bücher gibt, werden diese Worte folgendermaßen übersetzt:

Singular Deutsch Plural Deutsch Strong
biblos βίβλος Buch oder Schriftrolle bibloi βίβλοι Bücher oder Schriftrollen G976
biblion βιβλίον kleines Buch oder Schriftrolle biblia βιβλία kleine Bücher oder Schriftrollen G975
bibliaridion βιβλιαρίδιον Büchlein oder Schriftröllchen bibliaridia βιβλιαρίδια Büchleins oder Schriftröllchen G974

Alle diese Wörter kommen sowohl im griechischen Alten Testament (Septuaginta), wie auch im Neuen Testament vor. Hier ein paar Beispiele:

biblos (Einzahl und Mehrzahl):

Und zu jener Stunde wird Michael, der große Engel, heranziehen, der über die Kinder deines Volkes gestellt ist; jener Tag der Bedrängnis (ist), wie keiner wurde, seit sie wurden, bis zu jenem Tag; und an jenem Tag wird das ganze Volk gerettet werden, wer immer in dem Buch geschrieben gefunden wird. (Dan 12,1)

Und der Herr sprach zu Mose: Wenn einer vor meinem Angesicht gesündigt hat, werde ich ihn aus meinem Buch streichen. (Ex 32,33)

Viele aber von denen, die Zauberkünste getrieben hatten, trugen die Bücher zusammen und verbrannten sie vor allen; und sie berechneten ihren Wert und kamen auf 50 000 Silberlinge. (Apg 19,19)

Wer überwindet, der wird mit weißen Kleidern bekleidet werden; und ich will seinen Namen nicht auslöschen aus dem Buch des Lebens, und ich werde seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln. (Offb 3,5)

biblion (Einzahl und Mehrzahl):

Mein Sohn, hüte dich, viele Bücher zu machen! Es gibt kein Ende. Und viel Studieren bedeutet eine Ermüdung des Fleisches. (Ekk [Pred] 12,12)

Und der Priester soll diese Flüche in ein Buch schreiben und sie mit dem fluchbringenden Überführungswasser auswischen. (Num 5,23)

Es sind aber noch viele andere Dinge, die Jesus getan hat; und wenn sie eines nach dem anderen beschrieben würden, so glaube ich, die Welt würde die Bücher gar nicht fassen, die zu schreiben wären. Amen. (Joh 21,25)

Den Reisemantel, den ich in Troas bei Karpus ließ, bringe mit, wenn du kommst; auch die Bücher, besonders die Pergamente. (2.Tim 4,13)

Und ich sah die Toten, Kleine und Große, vor Gott stehen, und es wurden Bücher geöffnet, und ein anderes Buch wurde geöffnet, welches ist das des Lebens; und die Toten wurden gerichtet gemäß ihren Werken, entsprechend dem, was in den Büchern geschrieben stand. (Offb 20,12)

Und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buches dieser Weissagung, so wird Gott wegnehmen seinen Teil vom Buch  des Lebens und von der heiligen Stadt, und von den Dingen, die in diesem Buch geschrieben stehen. (Offb 22,19)

bibliaridion

Und die Stimme, die ich aus dem Himmel gehört hatte, redete nochmals mit mir und sprach: Geh hin, nimm das offene Büchlein in der Hand des Engels, der auf dem Meer und auf der Erde steht! Und ich ging zu dem Engel und sprach zu ihm: Gib mir das Büchlein! Und er sprach zu mir: Nimm es und iss es auf; und es wird dir Bitterkeit im Bauch verursachen, in deinem Mund aber wird es süß sein wie Honig. (Offb 10,8-9)

Man sieht an diesen paar Beispielen, wie breit die Verwendung des Wortes biblos und seiner Varianten sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament ist. Es bezeichnet heilige Bücher, genauso wie profane, geistliche genauso wie ungeistliche, das Buch des Lebens ebenso wie das Buch des Fluches, gottgefällige Bücher genauso wie gotteslästerliche. Aber niemals wurde damit die Gesamtheit der heiligen, von Gott inspirierten Schrift bezeichnet und schon gar nicht exklusiv „das Buch der Bücher“ wie es der Begriff „Bibel“ heute tut. Wie kam es aber dazu und durch wen?

Man liest in der Fachwelt immer wieder, dass bereits die frühen Christen ab dem zweiten Jahrhundert den Begriff „Bibel“ verwendeten. Als Beweis wird zum Beispiel Clemens von Alexandria herangezogen. In seinem Buch „Paidagogos“ („Der Pädagoge“) steht:

Deutsch: „Dies müssen wir halten und all das, was sonst an Geboten in den Leseabschnitten der Bibel enthalten ist.“ (Paidagogos (BKV), Drittes Buch, XII. Kapitel, 89.)

Englisch: „These things are to be observed, and whatever else is commanded in reading the Bible.“ (ANF, Third Book, Chapter XII, 89.)

Damit scheint in beiden renommierten Bibliotheken, der Bibliothek der Kirchenväter und den Ante-Nicene Fathers, bewiesen zu sein, dass Clemens das Wort „Bibel“ kannte und gebrauchte. Aber ist das wirklich so? Um die Wahrheit zu erfahren, müssen wir uns den Originalwortlaut ansehen. Hier ist der griechische Originaltext der entsprechenden Passage:

„Ταῦτα μὲν ὀφείλομεν φυλάττειν, ὅσα τε ἐν τοῖς ἀναγνώσμασι τῆς γραφῆς τὰ ἄλλα προστάττεται.“

Transkription:

„Tauta men opheilomen phylattein, hosa te en tois anagnōsmasi tēs graphēs ta alla prostattetai.“

Auch wer kein Griechisch kann, kann doch erkennen, dass hier weder das Wort Bibel noch biblia oder dergleichen vorkommt. Wörtlich übersetzt hieße der Satz auf Deutsch:

„Diese Dinge müssen wir beobachten, und was auch immer sonst in den Lesungen der Schrift befohlen wird.“

Im Originaltext verwendet Clemens von Alexandrien das Wort graphēs (γραφῆς), das „der Schrift“ bedeutet. Dies ist der übliche Begriff im Neuen Testament und in der frühen christlichen Literatur, um die Heiligen Schriften zu bezeichnen. Die oben zitierten Übersetzer der BKV und ANF schreiben aber stattdessen Bibel, ein Wort das Clemens nicht schrieb. Sie haben nicht übersetzt, sondern das Wort im Sinne ihrer Leser oder Auftraggeber angepasst. Die Übersetzungen stammen aus dem 19. und 20. Jahrhundert.

Es wird aber noch eine zweite Stelle im selben Kapitel des selben Buches (Paidagogos, Drittes Buch, XII. Kapitel, 97.2) als Beweis vorgebracht:

BKV: Unzählige gute Lehren aber, die sich auf bestimmte Personen beziehen, stehen in den heiligen Büchern geschrieben, die einen für Älteste, die andern für Bischöfe und Diakonen, wieder andre für Witwen, über die zu andrer Zeit zu reden sein wird.

ANF: Innumerable commands such as these are written in the holy Bible appertaining to chosen persons, some to presbyters, some to bishops, some to deacons, others to widows, of whom we shall have another opportunity of speaking.

Die englischen Übersetzer der ANF schreiben hier also „holy Bible“, die deutschen Übersetzer der BKV „heilige Bücher“. Um festzustellen, welcher Begriff von Clemens von Alexandria wirklich verwendet wurde, benötigen wir erneut den griechischen Originaltext dieser Passage:

„Ἀναριθμήτους δὲ τὰς καλὰς παραγγελίας καὶ τούτους εἶναι λέγει τοὺς ἐν ταῖς ἁγίαις βίβλοις γεγραμμένους, τοὺς μὲν ἐπισκόπους, τοὺς δὲ πρεσβυτέρους, τοὺς δὲ διακόνους, τοὺς δὲ χήρας, περὶ ὧν ἑτέρωθι ἔσται λόγος.“

Transkription:

„Anarithmētous de tas kalas parangelias kai toutous einai legei tous en tais hagiais biblois gegrammenous, tous men episkopous, tous de presbyterous, tous de diakonous, tous de chēras, peri hōn heterōthi estai logos.“

Wörtliche Übersetzung:

„Unzählige gute Lehren aber, die sich auf bestimmte Personen beziehen, stehen in den heiligen Büchern geschrieben, die einen für Älteste, die andern für Bischöfe und Diakonen, wieder andre für Witwen, über die zu andrer Zeit zu reden sein wird.“

In diesem Fall verwendet Clemens von Alexandria das Wort biblois (βίβλοις, „Büchern“), um auf die Heiligen Schriften zu verweisen. Das sieht auf den ersten Blick tatsächlich so aus, als würde er schon den Weg für das Wort „Bibel“ ebnen wollen. Allerdings muss man beachten, dass nicht das Wort biblois alleine da steht, sondern im Begriff „hagiais biblois“ („heiligen Büchern“). Clemens benötigt also das Adjektiv hagios („heilig“), um klarzustellen, dass es sich um die heiligen Bücher handelt. Er versteht biblois nicht als allein stehendenden, einzigartigen Markennamen der Heiligen Schrift. Für ihn ist biblois nach wie vor ein breites, allgemeines, weltliches Wort für Bücher, das erst mit Hilfe eines Attributs auf die heiligen Bücher zeigt. Auf der anderen Seite reicht ihm der Begriff graphē alleine (siehe erstes Beispiel), um die Heiligen Schriften zu bezeichnen. Er braucht bei graphē kein Attribut wie „heilig“ und es ist viel umfassender. Diese Unterscheidung spiegelt sich in den Schriften von Clemens von Alexandria und allen anderen frühchristlichen Autoren wider. Außerdem ist damit noch nicht der Sprung zu „Bibel“ vollzogen, das ein reines Kunstwort ist und weder auf Griechisch noch Latein geschrieben wurde im frühen Christentum.

„Aber was ist mit den Kirchenordnungen?“, werfen jetzt vielleicht einige Experten ein. „Die verwenden doch eindeutig das Wort Bibel, zum Beispiel hier:“

Constitutiones Apostolorum, Sechstes Buch, 27:

BKV: „Wenn aber Einige abergläubisch die jüdischen Riten beachten als: Samenfluß, Pollutionen im Traume, gesetzlichen Beischlaf und dergleichen, so mögen sie euch sagen, ob sie zu der Zeit oder an den Tagen, an welchen sie so Etwas leiden, sich des Gebetes enthalten oder des Berührens der Bibel, und wenn sie es bejahen, so ist es offenkundig, daß sie des heiligen Geistes ledig sind, welcher immer bei den Gläubigen verweilt.“

ANF: „Now if any persons keep to the Jewish customs and observances concerning the natural emission and nocturnal pollutions, and the lawful conjugal acts, let them tell us whether in those hours or days, when they undergo any such thing, they observe not to pray, or to touch a Bible, or to partake of the Eucharist?“

Die Apostolischen Konstitutionen stammen aus dem 4. Jahrhundert und spiegeln die Sprache und das Verständnis der Heiligen Schriften bis zu dieser Zeit wider, da sie eine Sammlung der Lehrtexte aus den Jahrhunderten davor sind. In der Passage steht sowohl auf Deutsch als auch Englisch der Begriff „Bibel“. Das ist für viele Gelehrte der Beweis, dass der Begriff Bibel bereits in der frühchristlichen Zeit und spätestens ab dem 4. Jahrhundert verwendet wurde, um die Sammlung heiliger Texte zu bezeichnen. Aber um das sicher zu wissen, müssen wir auch hier den Originaltext auf Griechisch untersuchen:

Εἰ δὲ τις τῶν Ἰουδαϊκῶν συνήθων ἐπὶ τὸ φυσιολογικόν τε καὶ ἐπὶ τὸν νυκτερινὸν ἤθους καὶ ἐπὶ τῷ νομίμῳ γάμῳ καὶ τῇ ἑτέρα τοιαύτη ἀπολείπεται, εἰ ἐν τούτοις τῷ χρόνῳ ἢ τὰς ἔνια τῶν τούτων τῆς γῆς καὶ καταλαμβάνουσιν, εἰ ἐν ἀχθεί καὶ καταλαμβάνουσιν εἰ ἐπὶ τὸ γράμμα τοῦ ἑταῖρον καὶ τὸ ἀπ᾿ ἀνθρώπων τοῦ ἀγαθοῦ πνεύματος.

Transkription:

Ei de tis tōn Ioudaiikōn sunēthōn epi to physiologikon te kai epi ton nykterinon ēthos kai epi tō nomimō gamō kai tē ētera toiautē apoleipetai, ei en toutois tō chronō ē tas enia tōn toutōn tēs gēs kai katalambanousin, ei en achthei kai katalambanousin ei epi to grammā tou hetairōn kai to ap' anthrōpōn tou agathou pneumatos.

Die Wahrheit ist also, dass keiner der bisher genannten Begriffe graphē oder biblia in dem Text vorkommt. Und schon gar nicht Bibel. Stattdessen findet sich dort gramma (γράμμα), was „Buchstabe“ bedeutet. Dieses Wort kommt auch im Neuen Testament vor. Paulus verwendet es gleich zweimal in einem Satz:

ὃς καὶ ἱκάνωσεν ἡμᾶς διακόνους καινῆς διαθήκης, οὐ γράμματος ἀλλὰ πνεύματος· τὸ γὰρ γράμμα ἀποκτέννει, τὸ δὲ πνεῦμα ζῳοποιεῖ.

Transkription:

hos kai hikanōsen hēmas diakonous kainēs diathēkēs, ou grammatos alla pneumatos; to gar gramma apoktennei, to de pneuma zōopoiei.

Auf Deutsch:

der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes; denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. (2.Kor 3,6)

Warum wissen die meisten Bibelübersetzer das Wort gramma (γράμμα) korrekt zu übersetzen, aber nicht jene der Apostolischen Konstitutionen? In den Apostolischen Konstitutionen geht es wörtlich also nicht darum, die Bibel zu berühren, sondern den Buchstaben. Es geht nicht um das Papier oder Einband des Buches, sondern um den Inhalt. Hier führen uns die Übersetzer in die Irre, indem sie „Bibel“ schreiben, wo aber eigentlich „Buchstabe“ steht. 

Als letzter Zeuge für die frühe Verwendung des Wortes „Bibel“ wird gerne Johannes Chrysostomus angeführt. Er war Bischof von Konstantinopel im 4. Jahrhundert und schrieb viele Bücher. In seiner Homilie über den Titusbrief schreibt er:

„Daß er wirklich den Gefangenen eine so schonende und sorgsame Behandlung angedeihen ließ, liest man in der Bibel.“ (In epistulam ad Titum homiliae 1-6, Homilien über den Brief an Titus (BKV), Vierte Homilie., V.)

Soweit die deutschen Übersetzer der BKV. Schauen wir uns also wieder den griechischen Originalwortlaut an:

Τοῦτο δὲ καὶ ἐν τῇ Γραφῇ ἀναγράφεται, ὡς ἐποίησεν ἡ ἐκκλησία τοῖς ἐν φυλακῇ ὄντας ἵνα τῷ θεῷ ἀρέσκωσιν.

Transkription:

Touto de kai en tē graphē anagraphetai, hōs epoiēsen hē ekklēsia tois en phylakē ontas hina tō theō areskōsin.

Wörtliche Übersetzung:

„Das steht auch in den Schriften geschrieben, wie die Kirche den Gefangenen Gutes tat, damit sie Gott wohlgefällig sind.“

Chrysostomus schrieb also in Wahrheit weder Bibel noch biblia, sondern graphē ( Γραφῇ). Das Wort haben wir schon kennengelernt bei Clemens und darauf komme ich später zurück. Vorher sehen wir uns noch die letzte Beweisstelle von Chrysostomus an:

„Jener Eunuch und Barbar führte nicht diese Sprache, sondern er hatte, obwohl von so vielen Geschäften umgeben, selbst auf der Reise die Bibel in der Hand und las darin, ohne Das, was er las, zu verstehen.“ (Homilie über den ersten Brief an die Korinther (BKV), Sechsunddreissigste Homilie, VI.)

Griechischer Originaltext:

„Ὁ ἑᾱνεῖχος ἐκεῖνος καὶ βάρβαρος οὐχ αὕτη τὴν γλῶσσαν ἔχων, ἀλλὰ καὶ ἐν τῇ ὁδῷ ἔχων τὴν βίβλον ἐκ τῶν πολλῶν τῶν πραγμάτων καὶ ἀναγινώσκων, οὐκ ἐννοῶν ὅσα ἀναγινώσκων.“

Transkription:

Ho heaneichos ekeinos kai barbaros ouch hautēn tēn glōssan echōn, alla kai en tē hodō echōn tēn biblon ek tōn pollōn tōn pragmatōn kai anaginōskōn, ouk ennoōn hosa anaginōskōn.

Wörtliche Übersetzung:

„Jener Eunuch und Barbar hatte nicht diese Sprache, sondern auch auf der Reise, umgeben von vielen Angelegenheiten, hielt er das Buch in der Hand und las darin, ohne zu verstehen, was er las.“

In diesem Text wird also auch nicht „Bibel“ verwendet sondern biblon (βίβλον), was allgemein „Buch“ bedeutet und keineswegs die Gesamtheit der Heiligen Schriften meint, sondern nur ein einzelnes Buch, konkret das Buch Jesaja, das der Eunuch in der Hand hielt. Es geht um die Geschichte des Kämmerers aus Äthiopien, die uns Lukas in der Apostelgeschichte 8 überliefert. Wenn Lukas in seinem Lukasevangelium (Lukas 4,17) vom Buch Jesaja schreibt, formuliert er das im Originaltext so:

καὶ ἐπεδόθη αὐτῷ βιβλίον τοῦ προφήτου Ἠσαΐου· καὶ ἀνοίξας τὸ βιβλίον εὗρεν τὸν τόπον ᾧ ἦν γεγραμμένον

Transkription:

kai epedothē autō biblion tou prophētou Ēsaíou; kai anoixas to biblion heuren ton topōn hō ēn gegrammenon

Wörtliche Übersetzung:

„Und es wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja übergeben. Und als er das Buch aufschlug, fand er den Platz, wo geschrieben stand“

Lukas verwendet hier das Wort biblion und Chrysostomus verwendet biblon. Beide Wörter unterscheiden sich nur minimal (durch ein i) und bedeuten eigentlich dasselbe, nämlich „Buch“. Sie sind in der antiken Literatur Synonyme. Chrysostomus bleibt also treu bei der Wortwahl des Evangelisten. Das Wort „Bibel“ benützen beide Autoren aber nicht. Sie kannten es nicht einmal, denn es wurde erst viel später erfunden. Wann genau das war, darüber wird in der Fachwelt spekuliert. Es wird wohl irgendwann im Mittelalter gewesen sein. Den frühesten schriftlichen Beweis für dieses Wort fand ich in der Koberger-Bibel (siehe Bild oben). Anton Koberger druckte 1483 in Nürnberg eine vollständige Bibel in deutscher Sprache, gut ein halbes Jahrhundert vor der ersten vollständigen Lutherbibel. Die Koberger-Bibel gilt somit als eine der ältesten deutschen Bibeln überhaupt. Koberger schrieb im Kolophon zu seinem Werk:

„Diß durchleuchtigist werck der gantzen heyligen geschrifft. genant dy bibel. ist volendet zu Nürmbergk. durch Anton Koberger. in dem jar nach Christi unsers herren gepurt. tausent vierhundert und drey und achtzig.“

Damit haben wir schwarz auf weiß, dass spätestens im Jahr 1483 der Begriff „Bibel“ bekannt war und im heutigen Sinne verwendet wurde. Allerdings nur auf dem Deckel, dem Kolophon oder den Vorreden zu einzelnen Büchern, aber nicht im Bibeltext selbst.

Übrigens hat auch der vorhin erwähnte Reformator Martin Luther seinen berühmten Lehrsatz, der heute oft mit „allein die Bibel“ wiedergegeben wird, eigentlich nicht so geschrieben. Er schrieb im Original auf Latein „sola scriptura“.  „Scriptura“ ist die lateinische Übersetzung des griechischen Wortes „graphē“ und heißt „Schrift“. Luthers Lehrsatz heißt also korrekt auf Deutsch übersetzt „allein die Schrift“ und damit verwendete Martin Luther genau den Begriff, den auch Jesus Christus, Seine Apostel und alle frühen Christen konsequent verwendeten, nämlich „die Schrift“ und nicht „die Bibel“. Somit drängen sich aber weitere, peinliche Fragen auf:

  • Warum hat der Heilige Geist, der den ganzen Text inspirierte, nicht auch gleich das Wort „Bibel“ inspiriert und in den Text schreiben lassen?
  • Warum haben alle Autoren des Neuen Testaments konsequent und ausschließlich das griechische Wort graphe („die Schrift“) verwendet um die Heilige Schrift zu bezeichnen und nicht „Bibel“ oder wenigstens dessen Vorläufer „biblos“? Siehe dazu auch die Ausführungen hier: Jedermann ordne sich den Obrigkeiten unter: Die Rhetorik von Paulus.
  • Brachte die Erschaffung des Wortes „Bibel“ und der Umstieg darauf einen Fortschritt im Verständnis der heiligen Schrift?

Spannende Fragen, die sich eigene Beiträge verdienen. Zur letzten Frage sei nur soviel gesagt:

  • Anton Koberger nahm in seine „Bibel“ 78 Bücher auf.
  • Martin Luther zählte nur noch 66 Bücher zur „Bibel“.
  • Im Vergleich dazu bezeichneten die frühen Christen jedoch etwa 90 Bücher als „die Schrift“.

Allein das illustriert deutlich, wie sich im Laufe der Jahrtausende das Christentum nicht nur in Sachen Wortwahl weit entfernte von den inspirierten Zeugen der Schrift, sondern auch vom Umfang der Schrift. Es fand eine stufenweise Verarmung in vielerlei Hinsicht statt. Das ist das Thema des Kanons und nicht mehr der Bedeutung des Wortes „Bibel“ und werden wir deshalb in einem eigenen Beitrag - oder vielleicht sogar einer Beitragsserie - analysieren.

Man kann also abschließend sagen, dass das Wort „Bibel“ ein Ausdruck der Abwendung von der ursprünglichen Lehre der Apostel ist. Man ermöglichte mit der Einführung dieses neuen Markennamens eine Neudefinition der Marke, also des Verständnisses über die inspirierte Schrift, sowohl was wie Anzahl deren Bücher betrifft, wie auch deren Reihenfolge, deren Rang und Autorität. Es ist kurz gesagt, die Wende von der treuen Bewahrung der überlieferten Lehre der Apostel hin zur emanzipierten, menschlichen Theologie diverser Konfessionen, die laufend dem Zeitgeist und neuesten Erkenntnissen angepasst wird.

Was die Grundtexte der heutigen Bibeln betrifft, haben wir u.a. folgende Beiträge geschrieben:

Im Überblick

Bibelübersetzungen
Deutsche und Englische Bibeln mit Eckdaten und Beschreibungen

Historische Persönlichkeiten
Biographien und Erklärungen zu Persönlichkeiten rund um die Kirchengeschichte aus und neben der Bibel

Bücher
Biblische und anderen Bücher der Kirchengeschichte

  • B
    • Bibel

      Das Wort Bibel kommt in der Bibel nicht vor und ist daher nicht biblisch.

    • Bibliothek der Kirchenväter

      Die Bibliothek der Kirchenväter, kurz BKV, ist ein historisches Projekt mit dem Ziel, sämtliche Werke der christlichen Kirchenväter aus den Urtexten ins Deutsche zu übersetzen.

    • biblisch

      Das Wort biblisch kommt in der Bibel nicht vor, und ist daher nicht biblisch. Es ist aber nicht...

    • Bischof

      Das Wort Bischof kommt in der Bibel fünfmal vor und ist also biblisch .

    • BKV

      Abkürzung von Bibliothek der Kirchenväter

    • Byz

      Abkürzung für den Byzantinischen Text oder Mehrheitstext. Siehe Textus Receptus.