• Wie ein wichtiges Gebot ins Gegenteil verdreht wurde

Die Rhetorik von Paulus

Es ist bekannt, dass jeder Mensch seinen persönlich Stil hat zu reden, aber auch zu schreiben. Es gibt Experten (ich gehöre nicht dazu), die können aufgrund des Schreibstils den Autor nachweisen und umgekehrt auch Fälschungen enttarnen. Das wird in der Kriminalistik genauso angewandt wie in der Kunst und Geschichte. So hat man festgestellt, dass jeder biblische Autor seinen ganz persönlichen Wortschatz hat, der ihn von allen anderen unterscheidet. Matthäus verwendet Wörter (z.B. „Himmelreich“), die kein anderer benützt, das Gleiche gilt für Johannes (z.B. „Antichrist“) und alle anderen Autoren wie eben auch Paulus. Man kann sagen, jeder Autor hat seine Wörter und Satzbauten, an denen er erkannt werden kann. Aber genau das kann auch dazu führen, dass man ihn missversteht, wenn man seinen Code falsch interpretiert.

Bei Paulus ist es zum Beispiel so, dass er gerne verallgemeinert, übertreibt, und die selben Wörter in verschiedenen Zusammenhängen verschieden meint. Ein und dasselbe Wort kann bei Paulus verschiedene Bedeutungen haben. Es kommt bei Paulus besonders auf den Zusammenhang an, man muss wissen, warum er den Brief schreibt und warum er den jeweiligen Satz schreibt und an wen, und welchen Gedankengang er gerade verfolgt, sonst kommt man auf die falsche Spur. Hinzu kommt, dass Paulus gerne Gedankensprünge macht und Sätze eigenartig betont, sodass sie, wenn man sie anders betont, einen anderen Sinn ergeben. Das kommt, weil Paulus seine Briefe diktierte. Er ging im Raum auf und ab, sprach seine Gedanken laut vor sich hin, und genauso wurden sie Wort für Wort vom jeweiligen Schreiber nieder geschrieben. Aber man muss nicht nur Paulus kennen, sondern auch die Lehre der Apostel, um ihn richtig zu verstehen. Deswegen braucht es Wissende. Immerhin schrieb Paulus nie an Unwissende, in der Regel an seine eigenen Schüler, die er ja schon zuvor Jahre lang mündlich unterwiesen hatte und seinen Stil und seine Gedankengänge kannten. Lesen aber Unwissende oder schlecht Unterwiesene die Briefe des Paulus, führt das rasch zu Irrtümern, überhaupt heutzutage, wo die meisten Leser den wahren Kontext oft nicht kennen und stattdessen sich bemüßigt fühlen, die Worte von Paulus universal in jeden ihnen passenden Zusammenhang zu setzen. All das fällt bei Römer 13 schwer ins Gewicht. Es hat seinen guten Grund, warum der Heilige Geist jeden Leser durch Petrus vor den Paulusbriefen warnt.

Ich möchte nun anhand von einem Beispiel (ich hatte ursprünglich viel mehr vorbereitet, aber dann sagte mir eine innere Stimme, dass das alles zu viel ist und ich das besser an anderer Stelle nachreiche, vielleicht in einem Buch) zeigen, wie die Rhetorik von Paulus ist:

Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet. (2.Tim 3,16+17) 

Die ersten sechs Wörter kann man sehr unterschiedlich betonen, lesen und verstehen. Aber Paulus überlässt nicht jedem x-beliebigen Leser die freie Interpretation, sondern unterweist hier seinen Musterschüler Timotheus. Timotheus verstand den Lehrsatz genauso wie Paulus ihn meinte und nicht wie man ihn vielleicht sonst noch lesen und verstehen könnte. 

Heute kursieren die abenteuerlichsten Ideen über diesen Vers im Christentum. Manch einer denkt vielleicht, dass Paulus, wenn er „alle Schrift“ schreibt, zwangsläufig auch „alle“ Schrift meint, mit Betonung auf „alle“. Das ist doch immerhin ein eindeutiges Wort, oder? Würde man „alle“ wörtlich verstehen, wie das heute im deutschsprachigen Raum üblich ist, dann hätte Paulus gemeint, dass wirklich alles, was je geschrieben wurde, von Gott eingegeben sei. Jede Zeitung, jeder Roman, jedes Parteiprogramm, jedes Lehrbuch, jedes Wahlplakat, einfach alles, was geschrieben ist. Dann wäre also praktisch jedes Schriftstück von Gott inspiriert, das auf der Welt herum liegt, steht oder hängt. Andere meinen, das sei natürlich völliger Quatsch, Paulus meinte in Wahrheit nur die Bibel. Wiederum andere geben zu bedenken, dass Paulus das Wort „Bibel“ nicht benützte und er außerdem gar nicht alle Bücher, die heute in „der Bibel“ sind, kannte, wie konnte er die dann gemeint haben? Jeder dieser Gedanken hat etwas für sich, aber keiner fragt, was Paulus meinte. Es ist das moderne Problem: heutige Leser drehen sich um sich selbst und lesen Texte so, wie sie sie verstehen möchten, so als wären die Texte persönlich an sie geschrieben oder als hätten sie selbst sie geschrieben. Bei manchen Texten mag das ja durchaus spannend oder sogar erwünscht sein, bei von Gott eingegebenen aber keineswegs. Denn Gott teilt in Seinen Schriften Seine Sicht der Dinge mit; und dabei ist die Sicht des Lesers unerheblich, ja oft sogar hinderlich. Der Empfänger muss sich auf den Sender einstellen, nicht umgekehrt.

Betonen möchte ich, dass dieser Satz vielleicht einer der folgenschwersten ist, die Paulus je geschrieben hat. Denn Paulus spricht hier über von Gott eingegebene Schrift (welche Schrift genau er damit meinte, löse ich im nächsten Absatz auf), also inspirierte Schrift, denn mit „eingegeben“ ist inspiriert, wörtlich von Gott „eingehaucht“, gemeint. Heute gibt es viele Christen, die leugnen, dass es überhaupt von Gott inspirierte Schrift gibt. Und dann gibt es mehrere Schriften, die von sich behaupten, sie seien von Gott inspiriert, widersprechen aber einander eklatant. Zum Beispiel behaupten die einen, dass Jesus weder gekreuzigt, noch gestorben, noch auferstanden sei, andere Schriften bezeugen aber alle drei Geschehnisse als Wahrheit. Und dann soll hier Paulus scheinbar bestätigen, dass alle diese Schriften von Gott inspiriert sind? Kann das sein? Und wenn ja, welcher Gott haucht widersprüchliche Schriften ein, die einander widerlegen wollen? Das müsste ein widersprüchlicher Gott sein, einer, der Verwirrung und Chaos stiftet. Paulus schreibt und lehrt tatsächlich über Lügengeister, die Menschen viel Verkehrtes einflüstern, aber er bezeichnet diese niemals als Gott.

Was meinte nun Paulus? Er betonte das zweite Wort, nämlich Schrift. Er meinte damit „Schrift“ ist nur, was von Gott eingegeben ist, und gab Timotheus damit eine Wortdefinition, was er als „Schrift“ bezeichnen und verstehen dürfe. Das Griechische Wort, das Paulus hier schrieb, ist graphē (γραφή) und verwendete Paulus selbst konsequent immer nur in diesem Sinne. Und das ist in dem Fall keine Eigenart von Paulus, sondern gelebte Praxis aller Autoren des NT. Jeder kann das heute noch selbst in einem interlinearen (Griechischer Text Wort für Wort über Deutscher Übersetzung) Neuen Testament untersuchen: wo immer Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Paulus, Petrus und Jakobus das Wort graphē schrieben, ist allein die von Gott inspirierte Schrift gemeint! Paulus gibt hier also die Lehre der Apostel seinem Schüler Timotheus weiter. 

Das wäre auch eine wichtige Anweisung an alle heutigen Bibelübersetzer, nur das griechische Wort graphē konsequent mit „Schrift“ zu übersetzen und sonst kein anderes. Leider halten sich nicht alle daran, sodass der Sinn, den die Apostel hinter diesem Wort sahen, bereits durch verschiedene Übersetzungen unsichtbar wird und am Ende stellt sich die Frage, welchen Sinn eine von Gott inspirierte Schrift hat, wenn sie nicht von inspirierten Menschen übersetzt wird? Ebenso wie die Frage, warum wir heute das Wort „Bibel“ verwenden als Bezeichnung für das inspirierte Wort Gottes, das sich aber nicht von jenem Wort ableitet, das die Apostel - wie gerade beschrieben - für die von Gott inspirierte Schrift reservierten und auch nicht das Selbe bedeutet und schon gar nicht die selben Bücher beinhaltet, die die Apostel als von Gott inspiriert betrachteten? Lauter spannende Fragen, die wir an anderen Stellen behandeln, z.B. hier: Bibel.

Zurück zu dem Wortlaut, den heute viele falsch verstehen: Mir sagte mal ein Freund „Alle Autos sind von Mercedes“. Er war Mercedes-Fan und wollte mir damit sagen, dass in seinen Augen kein anderes Fahrzeug die Bezeichnung „Auto“ verdiene als nur ein Mercedes. Das ist exakt die Formulierung von Paulus. Den selben Hintergedanken hatte ein Kunde von mir, als ich ihn fragte, ob er auch Apple führe. Er war einer der größten Computerhändler der Stadt und es war in den 1990er Jahren als Apple noch weit davon entfernt war, die wertvollste Firma der Welt zu sein. Er antwortete trocken: „Nein, wir verkaufen nur Computer“. Damit wollte er mir sagen, dass in seinen Augen Geräte von Apple nicht die Bezeichnung „Computer“ verdienen. Beide Beispiele aus dem 20. Jh, haben den selben Hintergedanken wie Paulus im 1. Jh. und formulieren das auch ähnlich: sie verwenden ein von der Allgemeinheit breit verstandenes Wort eingeschränkt für einen bestimmten Sinn, und nur Insider wissen das. So wie nur die Angestellten meines Kunden wussten, dass sie Applegeräte nicht als Computer bezeichnen durften, so wussten alle Freunde meines Freundes, dass sie in seiner Gegenwart besser kein anderes Auto so nennen als nur einen Mercedes, und so wussten alle Apostel und deren Schüler, dass intern mit dem Wort „Schrift“ nur von Gott inspirierte bezeichnet wurde. Für alle anderen Bücher hatten sie andere Wörter, z. B. biblos (βίβλος), zu Deutsch „Buch“, von dem sich unser heutiges Wort „Bibel“ ableitet.

Warum führe ich das so breit aus? Weil es die selbe Bewandtnis mit dem Vers 1 von Römer 13 hat, wo Paulus schreibt:

Jedermann ordne sich den Obrigkeiten unter, die über ihn gesetzt sind; denn es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre; die bestehenden Obrigkeiten aber sind von Gott eingesetzt. 

Man kann diesen Vers genauso wie 2. Tim. 3,16 unwissend falsch lesen, oder aber so, wie Paulus ihn meinte. Inzwischen kennen wir Paulus schon ein bisschen besser. Auch hier benützt Paulus eine allgemein klingende Pauschalaussage und meint aber doch in Wahrheit eine sehr exklusive Einschränkung. Er betont  hier das Wort „Obrigkeit“ und definiert es genau wie vorher das Wort Schrift in Hinblick auf Gott. Diesmal ist es halt nicht die von Gott eingegebene Schrift, sondern die von Gott eingesetzte Obrigkeit. Selbes Prinzip, anderer Anlass. So wie es vorhin bei Timotheus völliger Quatsch war zu lesen, dass Paulus alle existierenden Schriften als von Gott eingegeben bezeichnen würde, genauso wäre es jetzt Quatsch zu meinen, dass Paulus alle existierenden Obrigkeiten als von Gott eingesetzt sehen würde. Interessant ist nur, dass beim Timotheusbrief das den meisten Lesern einleuchtet, beim Römerbrief jedoch nicht. Woran liegt das? Ein Grund wird wohl sein, dass der Römerbrief - wie ich bereits ausführte - derzeit praktisch eine Alleinstellung für viele Christen hat und ihnen gar nicht auffällt, dass Paulus ähnliche Formulierungen in anderen Briefen verwendet, an denen man aber leichter erkennen könnte, dass er es nicht so meint, wie es am ersten Blick scheint. 

So wie Paulus an Timotheus schreibt, dass er nur diese als „Schrift“ bezeichnen sollte, welche von Gott eingeben ist, so schreibt er nun den Römern, dass sie nur diese als „Obrigkeit“ sehen sollen, die von Gott eingesetzt ist. Oder anders ausgedrückt: jede Obrigkeit, die nicht von Gott eingesetzt ist, verdient die Bezeichnung „Obrigkeit“ nicht. Auch hier ist - wenig überraschend für die Lehre der Apostel - Gott allein der Maßstab. Gott bestimmt die Begriffe. Gott gibt vor, was Obrigkeit ist und was nicht.