Welche Obrigkeit ist von Gott eingesetzt?
An der Stelle wird es höchste Zeit, einen frühen Christen zu Wort kommen zu lassen. Chrysostomus schreibt zu eben zitiertem Vers 1:
Was sagst du da? Jede obrigkeitliche Person ist also von Gott eingesetzt? So meine ich das nicht, will der Apostel sagen; ich spreche jetzt nicht von jeder einzelnen obrigkeitlichen Person, sondern von der Obrigkeit im allgemeinen. Daß es überhaupt obrigkeitliche Personen, daß es Herrscher und Untertanen gibt, daß nicht alles drunter und drüber geht, daß die Völker nicht wie Meereswogen hin- und hergetrieben werden, das, sag’ ich, ist ein Werk der Weisheit Gottes. Darum sagt er nicht: „Denn es gibt keine obrigkeitliche Person außer von Gott“, sondern von der Einrichtung spricht er, wenn er sagt: „Denn es gibt keine Obrigkeit außer von Gott.“
„Die Obrigkeiten aber, die bestehen, sind von Gott angeordnet.“
— So will auch jener Weise, wenn er sagt: „Von Gott ist das Weib dem Manne verbunden“, sagen, daß Gott die Ehe eingesetzt hat, nicht daß er jeden, der mit einem Weibe beisammen ist, selbst mit ihm verbindet. Wir sehen ja viele, die sündhafterweise und doch nach Ehegesetz miteinander beisammen sind, und können dies doch wohl nicht Gott zuschreiben. Der Weise will an jener Stelle nur dasselbe sagen, was Christus einmal gesagt hat: „Der von Anfang die Menschen schuf, hat sie als Mann und Weib erschaffen“, und weiter: „Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen“. Weil Gleichheit im Range oft Anlaß zu Streit gibt, so hat Gott verschiedene Obrigkeits- und Untertänigkeitsverhältnisse festgelegt, wie: zwischen Mann und Weib, zwischen Sohn und Vater, zwischen Greis und Jüngling, zwischen Sklave und Freiem, zwischen Herrscher und Untertan, zwischen Lehrer und Schüler. Was Wunder, daß das in der menschlichen Gesellschaft so ist, da doch Gott dasselbe beim menschlichen Körper so eingerichtet hat! Er hat an demselben nicht allen Gliedern den gleichen Rang gegeben, sondern das eine weniger vornehm, das andere vornehmer geschaffen. (Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Briefe des Paulus an die Römer (BKV), VIERUNDZWANZIGSTE HOMILIE )
Chrysostomus hatte nicht nur den Vorteil, dass er Paulus in der Originalsprache las und in Gemeinden aufwuchs, die von Paulus gegründet und von Apostelschülern geleitet wurden, sondern er war mit der Lehre der Apostel bestens vertraut. Er kannte die Hintergründe und Paulus selbst viel besser als wir heute, die in ganz anderen Gebieten und ganz anderen Sprachen und ganz anderen Gemeinden leben. Und offensichtlich konnte Chrysostomus auch noch besser lesen als der durchschnittliche Bibelleser heute, muss ich beschämend erkennen. Denn welchem Leser fallen heute diese Feinheiten auf, die Chrysostomus ins Treffen führt? Etwa, dass Paulus nicht von obrigkeitlichen Personen spricht, sondern von der Obrigkeit als Prinzip? Gott setzt eben nicht einzelne Personen als Obrigkeit ein, sondern hat das Prinzip Obrigkeit erschaffen und eingeführt. Und dieses Prinzip - oder Einrichtung, wie Chrysostomus schreibt - hat Gott in Seiner ganzen Schöpfung angelegt, es ist das Konzept der Ordnung durch Unterordnung. Gott hat klare Hierarchien geschaffen, um Ordnung zu schaffen, wie Chrysostomus korrekt aufzählt: den Mann als Obrigkeit über die Frau, die Eltern über die Kinder, die Alten über die Jungen, den Herrn über den Sklaven, den König über das Volk, den Lehrer über den Schüler. Das sind die Obrigkeiten, die Gott eingesetzt hat, diese sind die Ordnung Gottes.
Wem fällt auf, dass diese Ordnung Gottes von modernen Menschen abgelehnt wird?
Wem fällt auf, dass die Menschen sich im Laufe der Zeit völlig andere Obrigkeiten gewählt und eingesetzt haben, die sich gegen die von Gott eingesetzten Obrigkeiten erheben und diese abschaffen möchten oder schon längst abgeschafft haben und aber behaupten, diese - gegen Gottes Obrigkeit gerichteten Obrigkeiten - wären nun von Gott eingesetzt? Doch exakt dagegen richtet sich in Wahrheit die Anweisung von Paulus.
Paulus besteht aber darauf, dass nur die von Gott eingesetzten Obrigkeiten als solche bezeichnet und behandelt werden. Das griechische Wort, das Paulus an der Stelle benützt, bedeutet wörtlich „Autorität“ oder „Macht“ und wird im Neuen Testament über 100 Mal verwendet (in Röm. 13,1 gleich 3 mal) und ausnahmslos im genannten Sinn, nämlich eine von oben verliehene Macht oder Autorität. Davon sind die heutigen Christen aber weit entfernt. Sie betrachten Menschen, die sich selbst oder von unten Macht verliehen haben als Obrigkeiten, die von Gott gegeben seien. Es verhält sich in Wahrheit wie mit dem Götzendienst: Menschen erfinden sich eigene Götter und fordern andere auf, diese als Götter anzubeten. Doch es sind nur Scheingötter. So ist es mit allen Obrigkeiten, die Menschen sich selbst ausdenken und einsetzen. Tertullian zieht in seinem Buch „Über den Götzendienst“ übrigens genau diesen Vergleich:
Was also die Ehrenbezeigungen für Könige oder Imperatoren betrifft, so ist uns genugsam vorgeschrieben, den Obrigkeiten, Fürsten und Mächten untertan zu sein, jedoch innerhalb der Grenzen der Moral, insoweit wir dabei von der Idololatrie (Bilderverehrung, -anbetung, Götzendienst) frei bleiben. Dafür haben wir aus alter Zeit das Beispiel der drei Brüder, die, obwohl sonst dem König Nebukadnezar gehorsam, seinem Bilde Ehrenbezeigungen aufs standhafteste verweigerten, indem sie behaupteten, alles sei Idololatrie, was sich über das Maß menschlicher Ehren hinaus zur Gleichheit mit der göttlichen Majestät erhebt. Ähnlich blieb auch der im übrigen dem Darius anhängliche Daniel nur so lange im Dienste, als er von Verstößen gegen die Moral frei sein durfte. Denn sich dazu zu verstehen, konnte ihn ebenso wenig die Furcht vor den Löwen des Königs verleiten, wie sein Feuerofen die drei Jünglinge. (Tertullian, Über den Götzendienst, Kap 15)
Tertullian nennt hier einen sehr wichtigen Punkt, den heute leider allzuviele übersehen: wir müssen unterscheiden, ob es sich um göttliche oder menschliche Autoritäten handelt. Denn wenn wir menschliche Obrigkeiten gleichstellen mit göttlichen, indem wir ihnen den gleichen Gehorsam und die gleiche Ehre erweisen, dann begehen wir Götzendienst und erregen Gottes Zorn und Strafe. Die Heilige Schrift ist voll von warnenden, abschreckenden aber auch vorbildlichen Beispielen. Zwei vorbildliche aus dem AT erwähnt Tertullian: die drei Männer, die sich ihrer Obrigkeit widersetzten, weil diese sich zu einer göttlichen aufblähte, und dafür von ihr in den Feuerofen geworfen wurden; und Daniel, der sich ebenfalls von einer menschlichen Obrigkeit nicht verbieten ließ zu Gott zu beten und dafür in die Löwengrube geworfen wurde. Beide Geschichten sind uns aufgeschrieben, damit wir lernen mit Obrigkeiten richtig umzugehen und deren Grenzen zu kennen und ihnen diese auch im Fall des Falles aufzuzeigen. Übrigens handelt es sich in beiden Fällen um von Gott eingesetzte Obrigkeiten, nämlich Könige. Aber auch die dürfen nicht alles, was Gott darf. Gott hat jede Obrigkeit, die er einsetze, mit Rechten und Pflichten ausgestattet und setzte ihr Grenzen. Zu keiner Zeit darf uns eine Obrigkeit gegen auch nur das kleinste Gebot Gottes verstoßen lassen oder auch nur dazu verleiten.