Der Römerbrief
Der Römerbrief gilt heute in weiten Teilen des Christentums als wichtigster Brief von Paulus. Ja, der Römerbrief gehört neben dem Johannesevangelium in einigen Konfessionen sogar zu den zwei meistzitierten Büchern der Bibel. Und viele Christen sehen heute diesen Schwerpunkt als von Gott gegebenen und lassen sich praktisch nur noch vom Römerbrief leiten, der quasi als der Goldstandard in Sachen christlicher Lehre gilt. Doch dieses geistliche Übergewicht hatte der Römerbrief nicht von Anfang an. Martin Luther hat erst vor etwa 500 Jahren damit begonnen:
Aus diesem allen kannst du nun recht über alle Bücher urteilen und unterscheiden, welches die besten sind. Denn das Evangelium des Johannes und die Briefe des Paulus, insbesondere der an die Römer, und der erste Brief des Petrus sind nämlich der rechte Kern und das Mark unter allen Büchern, welche auch billig die ersten sein sollten. Und einem jeglichen Christen wäre zu raten, daß er dieselben am ersten und allermeisten lese und sich durch täglich Lesen so vertraut machte wie das tägliche Brot. …Weil nun Johannes gar wenig Werke von Christus, aber gar viele seiner Predigten beschreibt, umgekehrt die andern drei Evangelisten aber viele seiner Werke und weniger seiner Worte beschreiben, ist das Evangelium des Johannes das einzige, schöne, rechte Hauptevangelium und den andern dreien weit, weit vorzuziehen und höher zu heben. Ebenso gehen auch des Paulus und Petrus Briefe weit den drei Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas voran.
In Summa: das Evangelium des Johannes und sein erster Brief, die Briefe des Paulus, insbesondere der an die Römer, Galater, Epheser und der erste Brief des Petrus, das sind die Bücher, die dir Christus zeigen und dich alles lehren, was dir zu wissen not und selig ist, ob du schon kein ander Buch und Lehre nimmer sehest noch hörest. Darum ist der Jakobusbrief eine rechte stroherne Epistel gegen sie; da er doch keine evangelische Art an sich hat. Doch davon weiter in andern Vorreden. (Martin Luther, Vorrede zum Neuen Testament)
Mit Vorreden wie dieser beeinflusste Luther die Bibelleser indem er ihnen vorgab, welche Bücher wichtiger und besser wären und täglich gelesen werden sollten, und welche dagegen eher nicht gelesen werden bräuchten. Mit der Zeit wurde die empfohlene Leseliste immer kürzer. Hatte Martin Luther noch mehrere Briefe von Paulus, Petrus und Johannes neben dem Evangelium des Johannes empfohlen, so beschränkt sich die Lesepraxis vieler Christen heute nur noch auf das Johannesevangelium (meist das erste und einzige Evangelium, das Christen zu lesen bekommen - ja es ist auch bei Bibelübersetzungsprojekten das erste Buch der Bibel, das übersetzt und gedruckt wird) und den Römerbrief. Diesen Zug brachte erst Martin Luther ins Rollen und verpasste damit dem Christentum eine eigene Richtung. Die frühen Christen hatten einen anderen Zugang zu den Heiligen Schriften und setzen ganz andere Schwerpunkte.
Heute sieht es so aus, dass zwar verschiedene christliche Kirchen und Konfessionen unterschiedliche „Lieblingsbücher“ haben, aber bei allen steht der Römerbrief hoch im Kurs und findet sich praktisch in jeder Hitliste der meistzitierten Bücher des Neuen Testamentes unter den Top 3, nicht selten auf Platz 1. In jedem Fall sind die von Martin Luther empfohlenen Bücher auf den besten Plätzen, während jene, die der Reformator schlecht redete, weit abgeschlagen auf den hinteren Rängen ihr abgewertetes Dasein fristen müssen und selten bis nie gelesen oder gar zitiert werden.
Das war für mich Jahrzehnte lang ein vertrautes Bild und teilweise auch meine Lese- und Lehrpraxis. So sind wir „modernen“ Christen eben unterwiesen und geprägt worden. Umso überraschter war ich, als ich entdeckte, wie völlig anders der Fokus der frühen Christen war. Kein einziger Vers aus dem Römerbrief befindet sich bei den Zitaten der frühen Christen unter den Top 20 des NT! Unter den Top 50 der frühen Christen hat der Römerbrief gerade mal 2 Verse. Der am meisten zitierte Vers der frühen Christen aus dem Römerbrief ist übrigens 8,11 (also ein heute eher wenig zitierter) und schafft es gerade mal auf Platz 40. Im Vergleich dazu: das von den frühen Christen mit Abstand meistzitierte Buch des Neuen Testaments ist das Matthäusevangelium, also just eines der Bücher, die Luther wortreich abwertete. Unter den Top 30 Versen aus dem Neuen Testament ist Matthäus bei den frühen Christen 19 mal gelistet, der Römerbrief kein einziges Mal. Das mag überraschen, wirft aber für jene, die beeinflusst durch Martin Luther, den Römerbrief als das bedeutendste Buch des NT sehen, ein neues Licht auf die Lesart und Wichtigkeit des Römerbriefes aus Sicht der Urgemeinde und des frühen Christentums.
Und sieht man sich die gegenständliche Stelle aus Römer 13 an, die heutzutage sehr oft und gerne zitiert wird, so sieht das Ranking bei den frühen Christen bescheiden aus: die daraus häufigst zitierten Verse (nämlich 1 und 4) landen auf Platz 344. Nicht, dass jetzt jemand glaubt, die frühen Christen seien vielleicht lesefaul gewesen oder hätten wenig zitiert. Nein, das trifft viel mehr auf die modernen Christen zu. Die Texte der frühen Christen sind bis an den Rand gefüllt mit Bibelversen, die Seiten triefen nur so von Zitaten aus der Heiligen Schrift, dass es teilweise schwindelerregend ist. Jemand hat ausgerechnet, dass man das komplette Neue Testament wiederherstellen könnte, allein aus den Zitaten der frühen Christen. Das kann man von der modernen christlichen Literatur leider nicht behaupten, die ist sehr dünn besiedelt von Bibelzitaten und wenn doch Bibelverse vorkommen, dann immer die selben aus den wenigen üblichen Büchern.
Erste Aussage, die man bedenken muss, ist also, dass der Römerbrief für die frühen Christen insgesamt nicht den großen Stellenwert hatte, den er heute bekommt, und die besagten Verse noch weniger Bedeutung hatten. Das sollte schon zu denken geben, weil es um nichts geringeres als die Hierarchie geht: welches Buch hat das letzte Wort und welches Buch muss sich anderen unterordnen? Hier weicht die Lehre der Apostel gravierend von allen anderen ab.
Im Gegensatz zu Martin Luther zitierten die frühen Christen vorrangig die Evangelien von Matthäus und Lukas. An dritter Stelle rangiert übrigens der 1. Korintherbrief, also zwar ein Brief von Paulus, aber bezeichnender Weise gerade einer von denen, die Luther nicht lobte und hervorhob.
Daran knüpft die zweite Aussage, das es offensichtlich eine Verschiebung des Schwerpunktes in der Lehre des Christentums gegeben hat. So ist der Römerbrief nicht nur das bedeutendste biblische Lehrbuch heutzutage geworden, sondern auch das Substrat von praktisch allen Irrlehren im Christentum, die einzelne Passagen heraus lösen, falsch lesen und auch noch über alle anderen erheben. Genauso geschieht das auch mit besagter Stelle aus Kapitel 13.
Ich muss zugeben, dass es leicht ist, Römer 13 falsch zu verstehen und dass es einiges an Wissen benötigt, um diese Passage richtig zu lesen. Genau das schreibt aber schon Petrus
„In ihnen [den Briefen von Paulus] ist manches schwer zu verstehen, was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften, zu ihrem eigenen Verderben.“ (2.Petr. 3, 16)
Wie ich bereits weiter oben erwähnte, wundert mich, wie wenige Menschen heute Petrus ernst nehmen. Und noch mehr wundert mich, wie viele heute sogar gegen ihn argumentieren, wenn sie behaupten, dass Paulus leicht zu lesen wäre, und sogar Anfängern den Römerbrief empfehlen. Ich halte das für grob fahrlässig. Die faulen Früchte davon sieht man überall.
Warum aber ist Paulus so schwer zu verstehen? Und ich betone nochmal: schon zu Lebzeiten galt er als schwer zu verstehen und wurden die Worte von Paulus verdreht und damit Verderben angerichtet. Umso erstaunlicher ist, dass 2000 Jahre später Menschen glauben, sie würden Paulus ganz leicht verstehen. Sind die Menschen heute verständiger oder einfach nur eingebildeter? Petrus war jedenfalls sehr ehrlich und besorgt um die Leser von Paulus, daher warnte er sie. Man muss wissend sein, um Paulus nicht zu verdrehen. Das liegt mitunter an dem Schreibstil und der Rhetorik von Paulus.