• War Jakob ein falscher Prophet?

Es wird oft gesagt, dass die Septuaginta nur in Bezug auf die fünf Bücher Moses zuverlässig sei, weil sie sich dort vom Masoretischen Text kaum unterscheide. Doch es gibt auch dort gravierende Unterschiede, die theologisch brisant sind. Einen davon sehen wir uns nun an.

Die Qualität der Septuaginta (LXX) als Übersetzung ist umstritten. Doch selbst für ihre schärfsten Kritiker gelten die fünf Bücher Moses als die am sorgfältigsten übersetzten Bücher in der LXX. Der Text zeige eine große Nähe zum Masoretentext (MT) und sei sprachlich klar und präzise, so lautet die heute weit verbreitete Meinung.

Wir haben jedoch schon öfters bei unseren täglichen Lesungen festgestellt, dass auch die fünf Bücher Moses gravierende Unterschiede zwischen Septuaginta und Masoretentext aufweisen. Diese Unterschiede sind nicht nur sprachlicher Natur, sondern können zu einem anderen Weltbild, zu einem anderen Gottesbild, zu anderen Lehren führen. Und sie können uns zeigen, welcher der beiden Textversionen Gottes Wort ist. Das ist heute vielen Bibellesern gar nicht bekannt. Es ist daher ein dringendes und augenöffnendes Thema, dem wir eine ganze Beitragsserie widmen könnten. Fangen wir mal mit einer Stelle aus dem ersten Buch Moses an.

Genesis 49,28:

Masoretentext – ELB Septuaginta – LXXD
Alle diese sind die zwölf Stämme Israels, und das ist es, was ihr Vater zu ihnen redete. Und er segnete sie, jeden nach seinem Segen, mit dem er sie segnete. Alle diese sind die zwölf Söhne Jakobs, und dies sagte ihnen ihr Vater und er segnete sie, einen jeden je nach seinem Segen segnete er sie.

Auf den ersten Blick sehen beide Seiten vielleicht gleich aus, nahezu identisch. Und doch gibt es einen signifikanten Unterschied. Der Vers beginnt auf beiden Seiten wortgleich mit „Alle diese sind die zwölf ...“ und dann kommt der entscheidende Unterschied:

  • ... Stämme Israels (Masoretentext)
  • ... Söhne Jakobs (Septuaginta)

Rein sprachlich sind das zwei verschiedene Aussagen. Aber auch faktisch, historisch und theologisch ergeben sich signifikante Unterschiede, die im Laufe der Jahrtausende zu unterschiedlichen Ansichten, Praktiken und Lehren führten.

Lasst uns den Unterschied und dessen Auswirkung gemeinsam Schritt für Schritt untersuchen, analysieren und beurteilen.

„Alle diese ...“

Auf wen bezieht sich „alle diese“? Das erfahren wir in den Versen davor.

  Masoretentext Septuaginta  
1 Ruben Ruben  (Vers 3)
2 Simeon Simeon (Vers 5)
3 Levi Levi (Vers 5)
4 Juda Juda (Vers 8)
5 Sebulon Sebulon  (Vers 13)
6 Issachar Issachar (Vers 14)
7 Dan Dan (Vers 16)
8 Gad Gad  (Vers 19)
9 Asser Ascher  (Vers 20)
10 Naftali Naphthali  (Vers 21)
11 Josef Joseph  (Vers 22)
12 Benjamin Benjamin  (Vers 27)

„Alle diese“ sind also konkrete Namen. Beide Textversionen überliefern dieselben Namen, mit leicht unterschiedlichen Schreibweisen.

„... sind die zwölf“

Es steht in beiden Textversionen exakt die selbe Formulierung und Zeitform, nämlich Präsens, darauf komme ich noch. Und ja, es sind in beiden Fällen genau zwölf Namen.

„... Stämme Israels / Söhne Jakobs“

MT und LXX überliefern unterschiedliche Personengruppen (Stämme/Söhne) und unterschiedliche Namen (Israel/Jakob). Man kann einen Abschreibfehler ausschließen. Denn niemals wird durch fehlerhaftes Abschreiben aus dem Wort „Stämme“ das Wort „Söhne“ oder aus dem Wort „Israel“ das Wort „Jakob“. Auch Übersetzungsfehler kann man ausschließen. Diese Wörter sind so unterschiedlich in ihrer Schreibweise und Bedeutung, dass sie bewusst so verfasst worden sein müssen. Hier steckt eindeutig eine Absicht dahinter. Welche das ist, werden wir später ergründen. Vorerst suchen wir im Text selbst nach Antworten.

Sind diese zwölf Namen die Söhne Jakobs oder die Stämme Israels - oder vielleicht beides?

Das Kapitel beginnt folgendermaßen (Verse 1 und 2):

Masoretentext – ELB Septuaginta – LXXD

Und Jakob rief seine Söhne und sprach: Versammelt euch, und ich will euch verkünden, was euch begegnen wird in künftigen Tagen. Kommt zusammen und hört, ihr Söhne Jakobs, und hört auf Israel, euren Vater!

Jakob aber rief seine Söhne und sagte: Versammelt euch, damit ich euch berichte, was euch begegnen wird an den Tagesenden. Kommt zusammen und hört, Söhne Jakobs, hört Israel, euren Vater!

In absoluter Übereinstimmung sagen beide Textversionen, dass es sich um die Söhne Jakobs handelt. Zweimal wird das übereinstimmend erwähnt! Jakob ruft seine leiblichen Söhne und sagt zu ihnen „hört, ihr Söhne Jakobs“. Eindeutiger geht es nicht. Somit ist klar, dass diese zwölf Namen die leiblichen Söhne Jakobs sind. Auch der Masoretentext gesteht das zu Beginn des Kapitels. Aber am Ende, in Vers 28, macht er plötzlich die zwölf Stämme Israels daraus. Die Septuaginta hingegen bleibt konsequent bei den zwölf Söhnen Jakobs. Damit liegt die LXX in Sachen Textlogik, Stimmigkeit und Kontinuität vorn.

Es gibt aber in beiden Texten noch den Hinweis, dass Jakob sich selbst „Israel“ nennt mit den Worten „hört auf Israel, euren Vater!“. Für Kenner der biblischen Geschichte ist das nicht überraschend. Denn Jakob bekam von Gott persönlich den Namen „Israel“. Wie es dazu kam und was dieser neue Name Israel bedeutet, darin sind sich Masoretentext und Septuaginta übrigens nicht einig. Wir behandelten das ausführlich in einem anderen Beitrag (Israel ist nicht Israel). Es ist ein weiterer großer Unterschied zwischen MT und LXX in den fünf Büchern Moses, der hier jedoch keine Rolle spielt. Denn beide Textversionen bezeugen ja, dass Israel der Vater dieser zwölf Söhne ist. Es geht hier also in beiden Textversionen eindeutig um den Mann Israel als Vater seiner leiblichen zwölf Söhne. Das ist der Kontext, den der Text selbst nennt. Wenn aber der Masoretentext in Vers 28 plötzlich von Stämmen Israels spricht, dann verlässt er diesen Kontext! Die LXX tut das nicht und ist also erneut logischer, stringenter und klarer im Erzählfluss.

Und dann ist noch etwas anderes seltsam im Masoretentext. Er schreibt „Alle diese sind die zwölf Stämme Israels“. Doch zu diesem Zeitpunkt, gab es noch keine Stämme Israels. Daher ist die Zeitform „sind“ nicht korrekt. Die zwölf Söhne sind zwölf Männer. Die zwölf Stämme sind hunderttausende Männer, Frauen und Kinder. Es gab die zwölf Stämme Israels erst viel später. Aus diesem Grund meinen viele Ausleger, dass Jakob hier nicht von der Gegenwart spricht, sondern prophetisch von der Zukunft. Doch dann wäre es naheliegender gewesen, wenn er „Aus allen diesen werden die zwölf Stämme Israels hervorgehen" gesagt hätte. Doch Jakob sprach eindeutig im Präsens („sind“), das überliefern beide Texte, der Masoretentext und die Septuaginta, einmütig.

Nichtsdestotrotz ist in beiden Textversionen unübersehbar, dass Jakobs Segensworte in die Zukunft seiner Söhne weisen. Es sind unbestritten prophetische Worte. Was spricht also dagegen, dass auch der Nachsatz „Alle diese sind die zwölf Stämme Israels“ eine Prophezeiung ist?

Prophetie oder Anmaßung?

Gott selbst hat in Bezug auf prophetische Worte geboten:

Und wenn du denkst: Woran können wir ein Wort erkennen, das der HERR nicht gesprochen hat?, dann sollst du wissen: Wenn ein Prophet im Namen des HERRN verkündet und sein Wort sich nicht erfüllt und nicht eintrifft, dann ist es ein Wort, das nicht der HERR gesprochen hat. Der Prophet hat sich nur angemaßt, es zu sprechen. (5. Mose 18,21-22 EÜ)

Wenn man die Aussage „Alle diese sind die zwölf Stämme Israels“ prophetisch versteht, muss man sie also daran messen, ob sie auch eingetroffen ist. Waren diese zwölf Namen, die Jakob segnete, später die zwölf Stämme Israels? Wenn nicht, dann ist der Jakob im masoretischen Text ein falscher Prophet. Sehen wir im Alten Testament nach.


 

Die historischen zwölf Stämme Israels

Das Alte Testament zählt die Namen der zwölf Stämme Israels an mehreren Stellen auf. Ich habe die drei bekanntesten in einer Tabelle erfasst und stelle sie den Namen der zwölf Söhne Jakobs gegenüber:

  Jakob segnet seine 12 Söhne
(1. Mose 49)
Musterung der 12 Stämme Israels
(4. Mose 1)
Die 12 Kundschafter der 12 Stämmen Israels
(4. Mose 13)
Aufteilung des Landes auf die 12 Stämme Israels
(Josua)
1 Ruben Ruben  Ruben Ruben
2 Simeon Simeon Simeon Gad
3 Levi Gad Juda Manasse
4 Juda Juda Issaschar Juda
5 Sebulon Issaschar  Ephraim Ephraim
6 Issachar Sebulon Benjamin Benjamin
7 Dan Ephraim Sebulon Simeon
8 Gad Manasse  Manasse Sebulon
9 Asser Benjamin  Dan Issaschar
10 Naftali Dan  Asser Asser
11 Josef Asser  Naftali Naftali
12 Benjamin Naftali  Gad Dan

Der Vergleich ist vielleicht ein bisschen mühsam, weil die Reihenfolge der Namen der zwölf Stämme Israels sich in der Bibel von Fall zu Fall ändert. Abgesehen davon fallen zwei Dinge deutlich auf:

  1. Alle historischen Berichte über die 12 Stämme Israels nennen stets die selben zwölf Namen.
  2. Keine historische Liste der zwölf Stämme Israels im AT stimmt mit den zwölf Söhnen Jakobs überein.

Daraus kann man klar erkennen, dass die zwölf Söhne Jakobs nicht dasselbe sind wie die zwölf Stämme Israels! Der Unterschied besteht konkret in vier Namen:

  1. Levi und Josef waren zwar zwei der zwölf Söhne Jakobs, aber zählten historisch nie zu den zwölf Stämmen Israels!
  2. Auf der anderen Seite gehörten Ephraim und Manasse historisch immer zu den zwölf Stämmen Israels, waren aber keine Söhne Jakobs! Sie waren die Söhne Josefs. Und damit können sie nicht zu den zwölf Söhnen Jakobs gezählt werden.

Diese Fakten bestätigt das Alte Testament an jeder einschlägigen Stelle. Auch im Masoretentext! Alle in der Tabelle erfassten Bibelstellen - und noch ein paar mehr - haben wir übrigens detailliert in folgendem Beitrag abgehandelt: Hat Israel 10, 12, 13 oder 14 Stämme?


Man sieht im AT eindeutig, dass die historischen Zwölf Stämme Israels immer dieselben waren und blieben. Aber waren sie alle diese Namen, die Jakob segnete? Eindeutig nein! Wenn also Jakob ein prophetisches Wort geredet hätte, so müssen wir anhand der Schrift und der historischen Geschichte Israels sagen, dass es nicht eintraf. Nie wurden diese zwölf Namen die zwölf Stämme Israels. Somit ist nach dem Gesetz Moses der gute alte Jakob am Ende doch ein falscher Prophet auf den wir nicht zu hören brauchen? Nicht ganz. Es gibt noch zwei Einwände, die wir untersuchen wollen.

Erster Einwand: Jakobs Prophezeiung muss sich nicht schon im Alten Testament erfüllen.

Die Prophezeiung kann sich ja auch erst im Neuen Testament erfüllen oder vielleicht auch erst in der Zukunft in der Ewigkeit nach dem Endgericht. Auf andere Propheten trifft das ja auch zu.

Wir haben den Vorteil, dass wir auch eine Liste der Stämme Israels im Neuen Testament haben und sie befindet sich sogar in der Offenbarung des Johannes und bezieht sich auf das ewige Israel nach dem Endgericht. Lasst uns also die Namen damit vergleichen:

  Jakob segnet seine 12 Söhne
(1.Mose 49 ELB)
Die Stämme der Kinder Israels
(Offb 7,4-8 ELB)
1 Ruben Juda 
2 Simeon Ruben
3 Levi Gad
4 Juda Asser
5 Sebulon Naftali 
6 Issachar Manasse
7 Dan Simeon
8 Gad Levi 
9 Asser Issaschar 
10 Naftali Sebulon 
11 Josef Josef 
12 Benjamin Benjamin 

Auf den ersten Blick sehen die beiden Namenslisten abgesehen von der Reihenfolge schon sehr ähnlich aus. Auf den zweiten Blick gibt es zwischen diesen beiden aber doch einen feinen Unterschied: Dan fehlt auf der einen Seite und Manasse auf der anderen. Dan ist offenbar in der Ewigkeit kein Stamm Israels mehr. Stattdessen sind Josef und Levi erstmals bei den zwölf Stämmen dabei! Dafür fällt der historische Stamm Ephraim weg. Doch Manasse bleibt. Man könnte viel über die geistliche, theologische und eschatologische Bedeutung dieser Unterschiede diskutieren. Die frühen Christen taten das übrigens genauso wie die späten Christen, kamen aber zu anderen Ergebnissen. Doch das ist eine andere Geschichte. Hier geht es uns nur darum, ob die Söhne Jakobs auch gleichzeitig die Stämme Israels sind. Der Befund ist nun auch nach diesem Vergleich mit der Offenbarung eindeutig: Nein!

Man kann also in Übereinstimmung mit Gottes Wort, sowohl im AT wie im NT, klar sagen, dass Jakob ein falscher Prophet wäre, wenn er den Satz „Alle diese sind die zwölf Stämme Israels“ prophetisch gemeint hätte. Und er wäre ein schlechter Zeuge gewesen, wenn er den Satz als historischen Tatsachenbericht gemeint hätte. Denn sowohl historisch als auch prophetisch stimmt dieser Satz nicht und wird nie stimmen. Er ist im Lichte der Wahrheit Gottes eine Lüge.

Zweiter Einwand: Was, wenn Jakob diesen Satz nie gesagt hat?

Der Satz kann ja nachträglich von jemand anderem manipuliert worden sein.

Ironischerweise ist das die übliche Argumentationslinie der Kritiker der Septuaginta: Sie sagen, dass die Septuaginta von Menschen verfälscht oder falsch übersetzt wurde, wo immer sie vom Masoretentext abweicht.

Was aber, wenn es umgekehrt wahr ist? Also wenn die Septuaginta das wahre Wort Gottes ist, während der Masoretentext menschliche Widersprüche und Falschinformationen enthält? Kommen Widersprüche und falsche Prophezeiungen von Menschen oder von Gott? Werden Lügen vom Heiligen Geist inspiriert oder von Lügengeistern?

Das sind nicht rhetorische Fragen, sondern ernste, denen wir uns stellen müssen und anhand derer wir auch die Schrift beurteilen müssen, wenn sie uns zwei verschiedene Versionen anbietet. Welche der beiden ist von Gott und welche von Menschen?

Nach dem Gesetz Moses haben wir die Aussage aus dem Masoretentext bereits als Falschinformation und falsche Prophezeiung entlarvt  (siehe oben). Neben der Beurteilung nach dem Gesetz Moses, gibt es noch eine weitere zuverlässige Methode um zwischen Original und Fälschung zu unterscheiden, zwischen dem Wort Gottes und Menschenworten: Die historische Geschichte! Seit wann gibt es die Septuaginta und den Masoretentext und was waren die jeweiligen Triebfedern für deren Entstehung?


Wer die Geschichte nicht kennt ...

... wiederholt ihre Fehler. Dieser Spruch hat sich leider schon allzuoft bewahrheitet. Einer dieser Fehler ist, dass man glaubt, dass jeder hebräische Text das Alte Testament besser und zuverlässiger wiedergibt als die griechische Septuaginta, weil das Alte Testament ja ursprünglich auf Hebräisch geschrieben wurde. Doch das ist ein fataler Trugschluss, der schon sehr früh begangen wurde.

Bereits im 4. Jahrhundert n. Chr. erlag Hieronymus diesem Irrtum. Er war mit der Übersetzung der Bibel auf Latein beauftragt worden und zog für das Alte Testament erstmals in der Geschichte des Christentums nicht mehr die Septuaginta heran, sondern den hebräischen Text, den die Juden seiner Zeit hatten. Wir wissen heute nicht mehr wie und warum die Juden es schafften, Hieronymus von der Zuverlässigkeit ihres Textes zu überzeugen sodass er ihn der Septuaginta vorzog, doch wir wissen, was das für weitreichende Auswirkungen auf das Christentum und die christliche Lehre hatte. Es war ein Fehler, den Hieronymus vermeiden hätte können, wenn er aus der Geschichte gelernt hätte.

Denn im 3. Jahrhundert, also ein Jahrhundert vor Hieronymus, gab es einen Aufruhr im frühen Christentum, weil manche Christen sich von dem neuen hebräischen Text verwirren ließen und zu glauben begannen, dass er besser sei als die griechische Septuaginta. Damals waren das noch Einzelfälle von ungefestigten Christen, die nicht gut unterwiesen waren. Einer davon wandte sich per Brief an den Experten seiner Zeit in Sachen Schrift und bekam eine klare aber beschämende Antwort, ebenfalls per Brief. Den Brief haben wir Gott sei Dank heute noch. Wir übersetzten ihn auf Deutsch: Ein Brief von Origenes an Africanus. Dieser Brief ist ein historischer Zeitzeuge, der uns beweist, dass alle christlichen Gemeinden noch im 3. Jahrhundert n. Chr. selbstverständlich die Septuaginta verwendeten als Wort Gottes und dass die christlichen Lehrer die hebräischen Schriften der Juden als Fälschungen erkannten und ablehnten. Auch schon im zweiten Jahrhundert wurde das festgestellt und thematisiert, etwa von Irenäus, der einige Bücher gegen die Irrlehren schrieb und sich darüber ärgerte, dass einige Leute zu glauben begannen, dass wenn sie Hebräisch lernten und lasen dem Wort Gottes näher seien. Das war schon im zweiten Jahrhundert ein Unsinn. Und erst Recht im dritten.

Doch im 4. Jahrhundert begann man diesen Unsinn zu glauben und in die neue christliche Bibel, die Vulgata, auf Latein aufzunehmen. Dazu muss man wissen, dass im zweiten Jahrhundert die ungläubigen Juden begannen, sich einen hebräischen Text des Alten Testaments zu erstellen, weil sie die Septuaginta verschmähten. Denn mit der Septuaginta bewiesen die Christen, dass Jesus Christus der verheißene Messias war und dass die Juden ihn aber nicht erkannten. Als Reaktion darauf lehnten die antichristlichen Juden die Septuaginta ab. Sie war aber seit Jahrhunderten die Heilige Schrift der Juden gewesen! Die Christen hatten sie von den Juden übernommen und nun distanzierten sich die Juden davon und veröffentlichten plötzlich ein hebräisches Altes Testament, das es davor nie gab, und dass an tausenden Stellen von der Septuaginta abwich. Deswegen gab es wie gesagt im 3. Jh. Diskussionen im Christentum und der ebenfalls genannte Origenes studierte die unterschiedlichen Textabweichungen seiner Zeit 28 Jahre lang. Er schrieb Bücher über seine Erkenntnisse und verteidigte die LXX als wahres, inspiriertes Wort Gottes. Die Septuaginta lag immerhin in allen apostolischen Gemeinden auf und wurde gelehrt. Die große Wende kam dann, wie ebenfalls schon erwähnt, mit Hieronymus und seiner Vulgata im 4. Jahrhundert.

Und im 6. Jahrhundert kamen schließlich die Masoreten ins Spiel. Sie sammelten und standardisierten alle ihnen vorliegenden hebräischen Schriften und konstruierten daraus den sogenannten Masoretentext. Die Masoreten dokterten bis zum 10. Jh an ihrem Text herum. Heute folgen fast alle modernen Bibeln dem Masoretentext, der übrigens immer noch weiterentwickelt wird, und deswegen weichen die modernen Alten Testamente an der gegenständlichen Stelle (und vielen anderen, die wir in anderen Beiträgen besprechen), von der Septuaginta ab.

Die Septuaginta hingegen wurde im 3. Jh vor Christus aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt. Damals war das Alte Testament noch vollständig auf Hebräisch erhalten (was zur Zeit Christi längst nicht mehr der Fall war und schon gar nicht später) und noch dazu im Originalwortlaut. Daher ist die LXX zur Zeit Christi die Heilige Schrift gewesen und auch heute noch die zuverlässigste Version, weil sie auf dem ältesten, noch unverfälschten Text basiert.

Noch unverfälscht?

Ja, genau. Es gab nämlich im Judentum nach dem Tod von Jesus Christus ein unübersehbares Bestreben, alle Stellen im Alten Testament, die auf Jesus als den Christus hindeuten, zu „bereinigen“. Das Judentum nach Christus war und ist eindeutig tendenziös was die Ablehnung der christlichen Lehre und Schriftauslegung betrifft. Und die späteren Masoreten folgten dieser Tendenz.

Auf der anderen Seite hatte das Judentum vor Christi Geburt keinen Anlass Jesus Christus abzulehnen. Sie kannten Ihn ja gar nicht und noch weniger Seine Schriftauslegung. Daher ist die Septuaginta in Sachen Voreingenommenheit über jeden Verdacht erhaben. Niemand dachte im 3. oder 2. Jh. vor Christus daran, die Schrift redaktionell anzupassen, um die Bezüge zu Jesus abzuschwächen oder unsichtbar zu machen.

Doch ab dem 2. Jahrhundert nach Christus war das unbestritten eine Triebfeder im Judentum, das Jesus Christus ablehnte und großes Interesse daran hatte, dass Er keinesfalls der wahre Messias sein kann. Dieses Interesse ist bis heute ungebrochen im Judentum. Immer mehr Rabbis versuchen zu beweisen, warum Jesus Christus nicht der verheißene Messias sein kann. Sie tun das anhand des Masoretentextes.

Daher sind die masoretischen Texttraditionen keinesfalls näher am Original als die Septuaginta, die von unvoreingenommenen hebräischen Gelehrten aus allen Stämmen Israels in aller Ruhe aus den Originalschriftrollen übersetzt wurde.


Wer hat ein Interesse, Jakob zu verfälschen?

Die frühen Christen sahen viele Prophezeiungen und Geschichten aus dem Alten Testament als Hinweise und Beweise für Jesus Christus und Sein Evangelium. Genauso wie es die Apostel von ihrem Herrn Jesus lernten, als Er ihnen die Augen öffnete für das Gesetz, die Propheten und die Psalmen, um zu erkennen, wie sie alle von Ihm sprachen (Lk 24,27).

Und so verstanden die frühen Christen zum Beispiel jene Begebenheit, wo Jakob seine Enkeln Ephraim und Manasse segnete (übrigens tat er dies bevor er seine eigenen Söhne segnete!) als Prophetie auf die Stellung des Christentums zum Judentum. Denn Jakob gab dem zweitgeborenen Manasse den besseren Segen und stellte damit den erstgeborenen Ephraim zurück. Die beiden stehen laut frühchristlicher Auslegung symbolisch für das Judentum und das Christentum. Das Judentum ist der Erstgeborene, alte Bund, den Gott mit Seinem Volk schloss. Der Zweitgeborene ist das Christentum, mit dem Gott den neuen Bund schloss. Interessant ist zusätzlich, dass der erstgeborene Ephraim gar nicht mehr als Stamm Israels auftaucht in der Offenbarung, Manasse, der zweitgeborene aber schon. Auch das deuteten die frühen Christen geistlich. Wenn man aber Jakob sagen lasst, dass seine zwölf Söhne die zwölf Stämme Israels sind, dann fällt diese Geschichte mit Ephraim und Manasse komplett weg, weil sowohl Ephraim als auch Manasse als Stämme Israels verschwinden. Das verunmöglicht somit die christlichen Deutungen.

Außerdem verändert man damit die Sicht auf Levi. Denn Levi war im historischen Israel nie einer der zwölf Stämme, sondern ein spezieller dreizehnter Stamm mit speziellen Geboten und einer Sonderstellung (wir gehen darauf ausführlicher hier ein: Levi, der 13. Stamm). Das wiederum war für die Apostel und deren Schüler eine Prophezeiung, dass es da auch noch einen besonderen dreizehnten Apostel geben wird. Das erfüllte sich mit Paulus. Paulus war bei den Juden wohl der am meisten verhasste Christ und auch viele christlichen Irrlehrer hassten ihn leidenschaftlich und verunglimpften ihn als falschen Apostel, bis heute. Paulus wehrte sich bereits zu Lebzeiten dagegen. Wenn man nun sagt, dass die Zwölf Söhne Jakobs die zwölf Stämme Israels sind, dann ist Levi automatisch auch einer der zwölf, und es gibt keinen Grund mehr Paulus als dreizehnten Apostel anzuerkennen.


Fazit

Jakob war kein falscher Prophet, aber er wurde gefälscht.

Es gab für die ungläubigen Juden ab dem 2. Jh. n .Chr. einige Gründe, warum sie die frühchristliche Auslegung der zwölf Stämme Israels verhindern wollten. Jesus Christus darf nicht eindeutig als der verheißene Messias bewiesen werden können. Stattdessen brauchten sie eine verlässliche Textversion, die in Zukunft einen anderen als ihren wahren Messias beweisen wird und die rechtfertigt, dass sie Jesus von Nazareth als Gotteslästerer und falschen Messias hinrichteten.

So schrieben die Masoreten ab dem 6. Jh. n. Chr. ihren Masoretentext. Und dafür nahmen sie offenbar Widersprüche und historische Falschinformationen in Kauf. Wie jene in Genesis 49,28, wo aus den zwölf Söhnen Jakobs subtil die zwölf Stämme Israels gemacht wurden, damit die frühchristlichen Deutungen von Levi, Dan, Ephraim und Manasse nicht mehr möglich sind. Die Juden konnten dann sagen, dass die Lehre und Listen der frühen Christen, etwa die der zwölf Stämme in der Offenbarung des Johannes, falsch sind, und dass nur sie, die Juden, den zuverlässigen Text des Alten Testaments hätten. Das behaupten die Juden bis heute.

Leider folgen heute auch die meisten Christen dem Masoretentext und halten ihn für zuverlässiger als die Septuaginta. Und so glauben sie, dass die zwölf Söhne Jakobs gleichzeitig die zwölf Stämme Israels sind. Doch das waren sie noch nie und werden sie auch nie sein. Um das zu erkennen, braucht man die Septuaginta und die frühchristlichen Textzeugen.

Die richtige Beurteilung von Christus und den zwölf Stämmen Israels wird noch eine entscheidende Rolle in der Zukunft spielen. Nämlich dann, wenn es darum gehen wird, den Christus vom Antichristus zu unterscheiden. Den einen wird man an der Erfüllung der Worte aus der Septuaginta erkennen, so wie das bereits Seine Jünger von Anfang an taten. Der andere wird sich auf die Erfüllung des Wortlautes des Masoretentextes berufen können, so wie das heute schon seine Jünger tun.