Wir leben in einer verwirrten Zeit. In einer Zeit, wo es viele Meinungen gibt, aber wenig Erkenntnis und noch weniger Gewissheit. Ein symptomatisches Beispiel dafür ist die Frage, wie viele Stämme Israel wirklich hat.

Das Problem beginnt schon im ersten Buch der Bibel. In Kapitel 49 segnet Jakob am Sterbebett der Reihe nach individuell seine 12 Söhne: Ruben (Verse 3-4), Simeon und Levi (Verse 5-7), Juda (Verse 8-12), Sebulon (Vers 13), Issachar (Verse 14-15), Dan (Verse 16-18), Gad (Vers 19), Ascher (Vers 20), Naphthali (Vers 21), Joseph (Verse 22-26) und Benjamin (Vers 27). Danach heißt es in Vers 28:

Diese alle sind die zwölf Stämme Israels; und das ist es, was ihr Vater zu ihnen geredet und womit er sie gesegnet hat; und zwar segnete er jeden mit einem besonderen Segen. (1. Mose 49,28 SCH2000)

Damit ist für die meisten Bibelleser heutzutage Schluss. Sie denken, das sei der Beweis, dass Israel genau diese zwölf Stämme hat, und lesen nicht weiter in der Bibel. Und so merken sie nicht, dass der Satz falsch ist und im Widerspruch zum Rest der Heiligen Schrift und zur historischen Geschichte Israels steht. Denn Israel hatte nie diese zwölf Stämme. Sowohl die historische Geschichte Israels als auch der Rest der Heiligen Schrift bezeugt andere Stämme Israels. Hinzu kommt, dass es historisch betrachtet unsinnig ist, schon zur Zeit Jakobs von den Stämmen Israels zu sprechen. Denn die Stämme Israels gab es erst später. Enthält die Bibel historische Falschinformationen und Widersprüche? Immer mehr Leute behaupten das. Und auf den ersten Blick scheinen sie recht zu haben.

Die Wahrheit ist aber einfach und eindeutig herauszufinden. Und peinlich zugleich. Es ist - wie so oft - eine Frage des Grundtextes. Der zitierte Vers 28 steht so nur im Masoretentext. Wir haben zahlreiche Beiträge über den Masoretentext und dessen Problematik verfasst (z.B. hier: Septuaginta versus Masoretentext) und gehen deswegen hier nicht näher darauf ein. Nur soviel sei gesagt: Zur Zeit von Jesus Christus existierte der Masoretentext noch nicht! Das Alte Testament der Juden zur Zeit Christi war die Septuaginta. Und dort steht der Vers 28 bis heute so:

Alle diese sind die zwölf Söhne Jakobs, und dies sagte ihnen ihr Vater und er segnete sie, einen jeden je nach seinem Segen segnete er sie. (Gen 49,28 Septuaginta Deutsch)

Das ist der Wortlaut, den Jesus und Seine Apostel lasen und kannten. Und alle anderen Juden ihrer Zeit ebenso. Dieser Wortlaut fügt sich harmonisch in das Gesamtbild der Heiligen Schrift ohne irgendeinen Konflikt zu verursachen. Denn er bezeugt lediglich, dass es die zwölf Söhne Jakobs sind und behauptet nicht, es seien gleichzeitig auch die zwölf Stämme Israels. Außerdem ist der Satz so viel logischer, denn Söhne haben einen Vater. Das entspricht voll und ganz der Wahrheit!

Aber die Namen der Söhne Jakobs sind nie mit den Namen der Stämme Israels identisch gewesen. Zu keinem Zeitpunkt. Ja nicht einmal die Anzahl von zwölf stimmt historisch! Wir werden im weiteren Verlauf dieses Beitrags alle relevanten Bibelstellen im Alten und Neuen Testament systematisch der Reihe nach durchgehen und klären, welche Namen die Stämme Israels wirklich haben und wie viele es sind. Ich werde dabei die historische Vergangenheit wie auch die prophetische Zukunft anhand der gesamten Heiligen Schrift belegen.

Vorher noch ein kleiner Geschichtskurs, wie es dazu kam, dass es heute zwei unterschiedliche Versionen von Genesis 49,28 gibt:

Ich denke es leuchtet ein, dass Mose nicht verschiedene Versionen seiner Bücher schrieb, sondern nur eine einzige. Ich möchte an der Stelle übrigens nicht darüber diskutieren, ob Mose selbst seine Bücher schrieb. Denn auch das wird heute gerne bestritten. Wie schon gesagt, wir leben in einer verwirrten Zeit. Unbestritten ist, dass es ursprünglich nur einen Text gab. Der wurde penibel über die Jahrtausende bewahrt und weitergegeben, ursprünglich auf Hebräisch. Das hebräische Original wurde aber leider im Zuge der brutalen Hellenisierung des Mittelmeerraumes zerstört. Davor hatten die Hebräer, geleitet durch den Heiligen Geist, rechtzeitig und in aller Ruhe ihre gesamte Heilige Schrift ins Griechische übersetzt. Ein sehr spannender Abschnitt von Gottes Plan der Heilsgeschichte, den wir hier auch nicht näher betrachten. Diese griechische Übersetzung des hebräischen Originals ist jedenfalls heute unter dem Namen Septuaginta bekannt und immer noch vorhanden. Sie überlebte die Hellenisierung. Und so war sie das Alte Testament von Jesus Christus, Seinen Aposteln und deren Schülern, den frühen Christen.

Im zweiten Jahrhundert nach Christus begannen die Juden eine neue Heilige Schrift anzufertigen. Denn die Christen bewiesen mit der Septuaginta, dass Jesus Christus der verheißene Messias ist, und überzeugten damit viele Juden und Heiden, die sich in Folge zu Christus bekehrten. Darauf reagierten die christusfeindlichen Juden, indem sie einen neuen Text erstellten, der die christliche Schriftauslegung erschwerte. Sie formulierten Worte und Sätze um, strichen andere, und fügten neue hinzu. Sogar ganze Bücher wurden überarbeitet oder entfernt. Das machten die Juden zunächst auf Hebräisch und ließen es dann von einem gewissen Aquila von Sinope auf Griechisch übersetzen. Die griechische Fassung des Aquila erlangte im Judentum in kürzester Zeit große Beliebtheit. Auch die frühen Christen lasen den Aquila und den neuen hebräischen Text und beanstandeten tausende Abweichungen von der Septuaginta. Es kam zu Diskussionen, die ich hier nicht wiedergebe. Sie würden den Rahmen sprengen. Wir haben eigene Beiträge und ein frühchristliches Dokument dazu auf Deutsch übersetzt (Ein Brief von Origenes an Africanus).

Lange Rede, kurzer Sinn: Ab dem zweiten Jahrhundert wurde ein neuer Text von den ungläubigen Juden herausgebracht, der bewusst gegen die Septuaginta gerichtet war.

Ab dem 6. Jahrhundert standardisierten die Masoreten die Hebräische Schrift und Sprache. Im Zuge dessen brachten sie den sogenannten Masoretentext heraus. Er stützt sich auf die eben genannten Textänderungen der Juden ab dem zweiten Jahrhundert. Heute folgen die meisten Bibelgesellschaften leider dem Masoretentext anstatt wie die frühen Christen der Septuaginta. Und deswegen haben heute fast alle Bibeln den Wortlaut mit den „zwölf Stämmen Israels“ in Genesis 49,28. Nur die Bibeln, die sich noch auf die Septuaginta beziehen, haben den ursprünglichen Wortlaut mit den „zwölf Söhnen Jakobs“. Wir haben übrigens eine übersichtliche Tabelle angefertigt, wo man sieht, welche Bibel heute welchen Grundtext verwendet: Bibelübersetzungen.

Es macht einen nicht unerheblichen Unterschied, sowohl theologisch als auch historisch, ob man bei diesen zwölf Namen von den zwölf Söhnen Jakobs spricht oder von den zwölf Stämmen Israels. Denn nur eines von beiden ist wahr. Und das wollen wir nun ganz genau der Reihe nach untersuchen.