• War Jakob ein falscher Prophet?

Es wird oft gesagt, dass die Septuaginta nur in Bezug auf die fünf Bücher Moses zuverlässig sei, weil sie sich dort vom Masoretischen Text kaum unterscheide. Doch es gibt auch dort gravierende Unterschiede, die theologisch brisant sind. Einen davon sehen wir uns nun an.

Die Qualität der Septuaginta (LXX) als Übersetzung ist umstritten. Doch selbst für ihre schärfsten Kritiker gelten die fünf Bücher Moses als die am sorgfältigsten übersetzten Bücher in der LXX. Der Text zeige eine große Nähe zum Masoretentext (MT) und sei sprachlich klar und präzise, so lautet die heute weit verbreitete Meinung.

Wir haben jedoch schon öfters bei unseren täglichen Lesungen festgestellt, dass auch die fünf Bücher Moses gravierende Unterschiede zwischen Septuaginta und Masoretentext aufweisen. Diese Unterschiede sind nicht nur sprachlicher Natur, sondern können zu einem anderen Weltbild, zu einem anderen Gottesbild, zu anderen Lehren führen. Und sie können uns zeigen, welcher der beiden Textversionen Gottes Wort ist. Das ist heute vielen Bibellesern gar nicht bekannt. Es ist daher ein dringendes und augenöffnendes Thema, dem wir eine ganze Beitragsserie widmen könnten. Fangen wir mal mit einer Stelle aus dem ersten Buch Moses an.

Genesis 49,28:

Masoretentext – ELB Septuaginta – LXXD
Alle diese sind die zwölf Stämme Israels, und das ist es, was ihr Vater zu ihnen redete. Und er segnete sie, jeden nach seinem Segen, mit dem er sie segnete. Alle diese sind die zwölf Söhne Jakobs, und dies sagte ihnen ihr Vater und er segnete sie, einen jeden je nach seinem Segen segnete er sie.

Auf den ersten Blick sehen beide Seiten vielleicht gleich aus, nahezu identisch. Und doch gibt es einen signifikanten Unterschied. Der Vers beginnt auf beiden Seiten wortgleich mit „Alle diese sind die zwölf ...“ und dann kommt der entscheidende Unterschied:

  • ... Stämme Israels (Masoretentext)
  • ... Söhne Jakobs (Septuaginta)

Rein sprachlich sind das zwei verschiedene Aussagen. Aber auch faktisch, historisch und theologisch ergeben sich signifikante Unterschiede, die im Laufe der Jahrtausende zu unterschiedlichen Ansichten, Praktiken und Lehren führten.

Lasst uns den Unterschied und dessen Auswirkung gemeinsam Schritt für Schritt untersuchen, analysieren und beurteilen.

„Alle diese ...“

Auf wen bezieht sich „alle diese“? Das erfahren wir in den Versen davor.

  Masoretentext Septuaginta  
1 Ruben Ruben  (Vers 3)
2 Simeon Simeon (Vers 5)
3 Levi Levi (Vers 5)
4 Juda Juda (Vers 8)
5 Sebulon Sebulon  (Vers 13)
6 Issachar Issachar (Vers 14)
7 Dan Dan (Vers 16)
8 Gad Gad  (Vers 19)
9 Asser Ascher  (Vers 20)
10 Naftali Naphthali  (Vers 21)
11 Josef Joseph  (Vers 22)
12 Benjamin Benjamin  (Vers 27)

„Alle diese“ sind also konkrete Namen. Beide Textversionen überliefern dieselben Namen, mit leicht unterschiedlichen Schreibweisen.

„... sind die zwölf“

Es steht in beiden Textversionen exakt die selbe Formulierung und Zeitform, nämlich Präsens, darauf komme ich noch. Und ja, es sind in beiden Fällen genau zwölf Namen.

„... Stämme Israels / Söhne Jakobs“

MT und LXX überliefern unterschiedliche Personengruppen (Stämme/Söhne) und unterschiedliche Namen (Israel/Jakob). Man kann einen Abschreibfehler ausschließen. Denn niemals wird durch fehlerhaftes Abschreiben aus dem Wort „Stämme“ das Wort „Söhne“ oder aus dem Wort „Israel“ das Wort „Jakob“. Auch Übersetzungsfehler kann man ausschließen. Diese Wörter sind so unterschiedlich in ihrer Schreibweise und Bedeutung, dass sie bewusst so verfasst worden sein müssen. Hier steckt eindeutig eine Absicht dahinter. Welche das ist, werden wir später ergründen. Vorerst suchen wir im Text selbst nach Antworten.

Sind diese zwölf Namen die Söhne Jakobs oder die Stämme Israels - oder vielleicht beides?

Das Kapitel beginnt folgendermaßen (Verse 1 und 2):

Masoretentext – ELB Septuaginta – LXXD

Und Jakob rief seine Söhne und sprach: Versammelt euch, und ich will euch verkünden, was euch begegnen wird in künftigen Tagen. Kommt zusammen und hört, ihr Söhne Jakobs, und hört auf Israel, euren Vater!

Jakob aber rief seine Söhne und sagte: Versammelt euch, damit ich euch berichte, was euch begegnen wird an den Tagesenden. Kommt zusammen und hört, Söhne Jakobs, hört Israel, euren Vater!

In absoluter Übereinstimmung sagen beide Textversionen, dass es sich um die Söhne Jakobs handelt. Zweimal wird das übereinstimmend erwähnt! Jakob ruft seine leiblichen Söhne und sagt zu ihnen „hört, ihr Söhne Jakobs“. Eindeutiger geht es nicht. Somit ist klar, dass diese zwölf Namen die leiblichen Söhne Jakobs sind. Auch der Masoretentext gesteht das zu Beginn des Kapitels. Aber am Ende, in Vers 28, macht er plötzlich die zwölf Stämme Israels daraus. Die Septuaginta hingegen bleibt konsequent bei den zwölf Söhnen Jakobs. Damit liegt die LXX in Sachen Textlogik, Stimmigkeit und Kontinuität vorn.

Es gibt aber in beiden Texten noch den Hinweis, dass Jakob sich selbst „Israel“ nennt mit den Worten „hört auf Israel, euren Vater!“. Für Kenner der biblischen Geschichte ist das nicht überraschend. Denn Jakob bekam von Gott persönlich den Namen „Israel“. Wie es dazu kam und was dieser neue Name Israel bedeutet, darin sind sich Masoretentext und Septuaginta übrigens nicht einig. Wir behandelten das ausführlich in einem anderen Beitrag (Israel ist nicht Israel). Es ist ein weiterer großer Unterschied zwischen MT und LXX in den fünf Büchern Moses, der hier jedoch keine Rolle spielt. Denn beide Textversionen bezeugen ja, dass Israel der Vater dieser zwölf Söhne ist. Es geht hier also in beiden Textversionen eindeutig um den Mann Israel als Vater seiner leiblichen zwölf Söhne. Das ist der Kontext, den der Text selbst nennt. Wenn aber der Masoretentext in Vers 28 plötzlich von Stämmen Israels spricht, dann verlässt er diesen Kontext! Die LXX tut das nicht und ist also erneut logischer, stringenter und klarer im Erzählfluss.

Und dann ist noch etwas anderes seltsam im Masoretentext. Er schreibt „Alle diese sind die zwölf Stämme Israels“. Doch zu diesem Zeitpunkt, gab es noch keine Stämme Israels. Daher ist die Zeitform „sind“ nicht korrekt. Die zwölf Söhne sind zwölf Männer. Die zwölf Stämme sind hunderttausende Männer, Frauen und Kinder. Es gab die zwölf Stämme Israels erst viel später. Aus diesem Grund meinen viele Ausleger, dass Jakob hier nicht von der Gegenwart spricht, sondern prophetisch von der Zukunft. Doch dann wäre es naheliegender gewesen, wenn er „Aus allen diesen werden die zwölf Stämme Israels hervorgehen" gesagt hätte. Doch Jakob sprach eindeutig im Präsens („sind“), das überliefern beide Texte, der Masoretentext und die Septuaginta, einmütig.

Nichtsdestotrotz ist in beiden Textversionen unübersehbar, dass Jakobs Segensworte in die Zukunft seiner Söhne weisen. Es sind unbestritten prophetische Worte. Was spricht also dagegen, dass auch der Nachsatz „Alle diese sind die zwölf Stämme Israels“ eine Prophezeiung ist?

Prophetie oder Anmaßung?

Gott selbst hat in Bezug auf prophetische Worte geboten:

Und wenn du denkst: Woran können wir ein Wort erkennen, das der HERR nicht gesprochen hat?, dann sollst du wissen: Wenn ein Prophet im Namen des HERRN verkündet und sein Wort sich nicht erfüllt und nicht eintrifft, dann ist es ein Wort, das nicht der HERR gesprochen hat. Der Prophet hat sich nur angemaßt, es zu sprechen. (5. Mose 18,21-22 EÜ)

Wenn man die Aussage „Alle diese sind die zwölf Stämme Israels“ prophetisch versteht, muss man sie also daran messen, ob sie auch eingetroffen ist. Waren diese zwölf Namen, die Jakob segnete, später die zwölf Stämme Israels? Wenn nicht, dann ist der Jakob im masoretischen Text ein falscher Prophet. Sehen wir im Alten Testament nach.