Dieser Mann hieß Origenes. Es gab zwar auch andere hoch angesehene Lehrer vor und neben ihm, wie etwa Irenäus von Lyon und Hippolytus von Rom, die in ihren Büchern die Überlieferung und Inspiration der Septuaginta immer wieder eindeutig bestätigt und verteidigt hatten, aber niemand befasste sich mit diesem Thema so akribisch und tiefgreifend wie Origenes, der 28 Jahre lang die verschiedenen Versionen der Septuaginta, die zu seiner Zeit vorhanden waren, Wort für Wort studierte und die Unterschiede zum hebräischen Masoretentext penibel untersuchte, verglich, dokumentierte und kommentierte. Origenes wuchs in Alexandria auf, wo es eine bedeutende Bibliothek und eine große jüdische Gemeinschaft gab. Er kannte viele gelehrte Hebräer, konnte fließend Hebräisch und kannte sich im jüdischen Glauben gut aus. Er hatte also einen erstklassigen Zugang zu allem Wissen seiner Zeit und schrieb seine Erkenntnisse in über 50 Bücher, von denen heute kein einziges mehr erhalten ist. Erhalten geblieben ist uns aber Gott sei Dank ein wegweisender Brief. 

Im Jahr 240 n. Chr. schrieb nämlich ein gewisser Julius Africanus einen Brief an Origenes, von seiner Sorge darüber, dass die Juden einen anderen Bibelkanon hatten als die Christen. Konkreter Anlass war, dass Origenes in einer Diskussion Susanna zitierte als ob sie zur Heiligen Schrift gehörte, was in den Augen von Africanus aber nicht stimmte, und er wollte eine Stellungnahme dazu von Origenes. Das Antwortschreiben von Origenes ist uns bis heute erhalten geblieben und ein Segen, denn dadurch können wir aus erster Hand erfahren, wie die Diskussionen über die Apokryphen im dritten Jahrhundert tatsächlich geführt wurden und wie die Gemeinden Christi damit umgingen. Es ist ein unschätzbares Zeitdokument. Wir sind nicht mehr auf Spekulationen angewiesen, sondern können die Geschichte verlässlich erfahren.  „Ein Brief von Origenes an Africanus“, ist auf Englisch online in der Bibliothek der Kirchenväter kostenlos für jeden abrufbar. Wir haben ihn außerdem auf Deutsch übersetzt und, mit erklärenden Fußnoten ergänzt, als Büchlein herausgebracht. Ein paar Gustostückerl daraus:

Dein Brief, aus dem ich erfahre, was du über die Susanna im Buch Daniel denkst, die in den Gemeinden verwendet wird, erscheint zwar etwas kurz, führt aber in seinen wenigen Worten viele Probleme an, von denen jedes keine gewöhnliche Behandlung verlangt, sondern eine, die über den Rahmen eines Briefes hinausgeht und die Grenzen einer Abhandlung erreicht. (Kap. 1)

„Susanna“ war damals also in den Gemeinden im Buch Daniel enthalten und in Verwendung! Erst später galt sie bei gewissen „Christen“ als „apokryph“ und wurde aus dem Buch Daniel gelöscht. Aber zur Zeit von Origenes, im dritten Jahrhundert, sahen das noch alle Gemeinden Christi anders. Und der Brief ist tatsächlich eine kleine Abhandlung geworden, in 15 Kapitel.

Du beginnst damit, dass du sagst, als ich in meiner Diskussion mit unserem Freund Bassus die Schrift benutzte, die die Prophezeiung Daniels in der Angelegenheit der Susanna enthält, ... habe ich dies getan, als ob es mir entgangen wäre, dass dieser Teil des Buches gefälscht ist. Du sagst, du lobst diese Stelle als elegant geschrieben, tadelst sie aber als eine modernere Komposition und Fälschung.

Als Antwort darauf muss ich dir sagen, was wir zu tun haben, nicht nur im Falle der historischen Geschichte der Susanna, die in jeder Gemeinde Christi in der griechischen Fassung ... zu finden ist, die aber nicht im Hebräischen steht, oder betreffend der beiden anderen Stellen, die du am Ende des Buches erwähnst und die die historische Geschichte von Bel und dem Drachen enthalten, die ebenfalls nicht in der hebräischen Fassung des Daniel stehen, sondern auch bei Tausenden anderer Abschnitte, die ich an vielen Stellen fand, als ich mit meinen bescheidenen Kräften die hebräischen Abschriften mit den unseren verglich. (Kap. 2)

Gleich zu Beginn bezeugt also Origenes, dass Susanna und die anderen Stellen, die Africanus anspricht und die heute als apokryph gelten, damals in jeder Gemeinde Christi in Verwendung waren. Nur die Hebräer hatten sie nicht (mehr). Und er spricht von Tausenden anderen Abschnitten, die im Hebräischen fehlen. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie ist damit aus Sicht der Gemeinde Christi umzugehen? Das erläutert Origenes im Zuge des Briefes anhand konkreter Beispiele. Er sagt, was wir zu tun haben in diesen Fällen. Er geht systematisch einige Stellen durch und beweist, dass sowohl das Alte als auch das Neue Testament die apokryphen Bücher bestätigt. Und - was der Überhammer ist - dass auch die Juden wussten, dass das alles wahr ist, etwa die Geschichte von Susanna. Die Hebräer hatten sogar eine mündliche Überlieferung zu Susanna, die gar nicht in der Schrift steht, und die aber die Schrift ergänzt und bestätigt. Aber warum haben sie dann die Susanna aus ihrer Schrift entfernt, wenn sie die Geschichte selbst für wahr hielten und nicht ablehnten? Die Antwort darauf ist verblüffend einfach und entlarvend: 

Die Antwort ist, dass sie vor dem Wissen des Volkes so viele Passagen verbargen wie sie konnten, die einen Skandal gegen die Ältesten, Herrscher und Richter enthielten. Von denen sind einige in nicht kanonischen Schriften (Apokryphen) erhalten geblieben.

Darum halte ich keine andere Vermutung für möglich, als die, dass die den Ruf der Weisheit hatten und die Obersten und Ältesten, dem Volk jede Stelle wegnahmen, die sie beim Volk in Misskredit bringen konnte. Wir brauchen uns also nicht zu wundern, wenn diese Geschichte über den bösen Plan der zügellosen Ältesten gegen Susanna wahr ist, aber von Männern, die selbst nicht sehr weit vom Rat dieser Ältesten entfernt waren, verheimlicht und aus der Schrift entfernt wurde. (Kap. 9)

Man wollte seitens der jüdischen Führung also Skandale vertuschen um die Obrigkeit nicht in Verruf zu bringen und versteckte daher alles, was dem einfachen Volk enthüllen könnte, dass es von gierigen, korrupten, gottlosen Ältesten und Richtern hintergangen und belogen wird, die aber einen ausgezeichneten Ruf bewahren und sich als Moralinstanzen ausgeben wollten. Nur in versteckten (also apokryphen) Schriften und Dokumenten konnte man die Wahrheit finden, die vor dem Volk geheim gehalten wurde.

Klingt das irgendwie modern? Machen heute nicht immer noch viele Regierungen das Selbe? Und wenn dann investigative Journalisten oder Whistleblower geheime Dokumente an die Öffentlichkeit spielen, die dem Volk zeigen, dass es absichtlich von der eigenen Regierung betrogen, manipuliert und sogar getötet wurde, werden diese Aufdecker als Staatsfeinde verfolgt, weggesperrt und verborgen sodass sie niemand mehr wahrnimmt. Das prominenteste Beispiel ist hierfür wohl Julian Assange.

Heute würde man Origenes mithilfe der Medien lächerlich machen wegen solcher Aussagen und als Verschwörungstheoretiker bezeichnen. Oder als Antisemit. Oder beides. Die infantilen Abwehrstrategien der Mächtigen haben sich genauso wenig geändert, wie ihre schmutzigen Interessen und Machenschaften. Origenes aber behauptete das alles nicht nur, er bewies es anhand vieler Beispiele aus der Schrift und er zeigte, dass auch die gebildeten Juden davon Kenntnis hatten. Als Zeugen ruft er keine geringeren als den Herrn Jesus Christus selbst und die Autoren des Neuen Testaments auf, die das alles wussten, ansprachen und bestätigten. Und er berichtet von jüdischen Zeitgenossen, die ihm zustimmten und sogar weitere Argumente für die Apokryphen lieferten.

Origenes eröffnet uns damit eine weitere historische Definition des Wortes Apokryphen. Denn zuerst bezeichneten die frühen Christen damit die geheimen Schriften der Gnostiker, wie wir bereits weiter oben zeigten. Nun erweitert Origenes den Begriff auf die Juden und sagt, dass diese ebenfalls gewisse Passagen und sogar ganze Bücher absichtlich versteckten. Diesmal handelte es sich aber nicht um frei erfundene Geheimlehren von Irrlehrern, sondern um Teile der von Gott inspirierten Heiligen Schrift, die verborgen, also apokryph, wurden, damit das normale Volk sie nicht erfuhr.

Im dritten Jahrhundert haben wir also die Situation, dass sowohl Gnostiker als auch Juden ihre eigenen Apokryphen hatten. Die Christen lehnten die Apokryphen der Gnostiker streng ab und spotteten über deren Torheit, die jüdischen Apokryphen hingegen waren aus Sicht der Gemeinden Christi im dritten Jahrhundert aber Wahrheit und Bestandteil von Gottes inspirierter Schrift, nämlich der Septuaginta, die sie verwendeten und lehrten, wie Origenes fortwährend beweist:

Ich glaube, das Gesagte reicht aus, um zu beweisen, dass es nichts Wunderbares wäre, wenn diese Geschichte historisch wahr wäre und der zügellose und grausame Überfall auf Susanna tatsächlich von denen verübt wurde, die damals Älteste waren, aufgeschrieben von der Weisheit des Geistes, aber entfernt von diesen Herrschern von Sodom, wie der Geist sie nennen würde. (Kap. 9)

Origenes bestätigt damit, dass die Geschichte Susanna wahr ist und vom Heiligen Geist inspiriert wurde, und unterstreicht generell die oben erwähnte Haltung der Gemeinden Christi, alle Apokryphen als Heilige Schrift zu verwenden, und begründet sie geistlich:

Sollen wir annehmen, dass die Vorsehung, die in den heiligen Schriften für die Erbauung aller Gemeinden Christi gesorgt hat, nicht an die mit einem Preis Erkauften gedacht hat, für die Christus gestorben ist, den Gott, der die Liebe ist, nicht verschonte, obwohl Er Sein Sohn ist, sondern Ihn für uns alle dahingegeben hat, damit Er uns mit Ihm alles schenken kann? (Kap. 4)

Es ist also nicht nur töricht, sondern sogar gotteslästerlich, wenn man behaupten will, dass Gott den Christen durch Christus nicht alles gegeben hätte und dass Christus, der ja das Wort selbst ist, Seinen Nachfolgern persönlich ein verfälschtes Wort überliefert hätte, seinen Feinden aber, die Ihn ablehnten und töteten, das richtige Wort nach Seinem Tod eingegeben hätte. Denn die Masoreten stellten ihnen Masoretentext ja erst ein Jahrhundert nach Christi Tod zusammen. Gott vertraute aber Seinem Volk mit der Septuaginta die Heiligen Schriften, die Bücher mit der richtigen Übersetzung und dem richtigen Umfang, an und überließ diese seinen wahren Kindern, die sie eigenverantwortlich bewahren sollten. Die wahren Nachfolger Christi bewahrten diese Heilige Schrift treu, wie Origenes bestätigte und auch einforderte. Diese ursprünglich christliche positive Haltung zu den Apokryphen änderte sich aber bald. Das geschah jedoch nicht zufällig schleichend, sondern bewusst gesteuert schrittweise.

Im Überblick

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      Abkürzung für Ante-Nicene Fathers

    • Ante-Nicene Fathers

      Die frühchristlichen Schriften, die als vornizäische Väter (engl. Ante-Nicene Fathers) bekannt sind, sind die wertvollste Hilfe zum Verständnis des Neuen Testaments in seinem historischen Kontext. 

    • Apokryphen

      Das Wort Apokryphen wurde aus dem griechischen Wort apokryphos (ἀπόκρυφος, G614) abgeleitet, das in der Bibel mehrmals vorkommt.

    • Apologet

      Ein Apologet ist ein Glaubensverteidiger

    • Apostel

      Das Wort Apostel kommt rund 80 mal im Neuen Testament vor und ist somit biblisch .

    • AT

      Abkürzung für A ltes T estament