Wenn sie aber sagen, Paulus habe offenkundig einen Gott dieser Welt von dem Gott unterschieden, der über alle Hoheit, Zeit und Macht erhaben ist, indem er spricht: „In ihnen hat der Gott dieser Welt ungläubige Herzen verblendet“ , so trifft uns keine Schuld, daß die, welche von sich behaupten, übergöttliche Geheimnisse zu wissen, nicht einmal Paulus zu lesen verstehen. (Irenäus von Lyon (130-202), Gegen die Häresien (BKV), Drittes Buch, 7. Kapitel: Exegese über 2 Kor. 4,4, 1.)
Hier entlarvt Irenäus gewisse Leute, die behaupten, übergöttliche Geheimnisse zu kennen, aber in Wahrheit nicht einmal Paulus zu lesen verstehen. Er spricht von den Gnostikern (Wir haben in diesem Beitrag mehr über sie geschrieben: Häresie). Warum ist das so peinlich? Weil Paulus wirklich der Hüter der Geheimnisse Gottes war! Wer also Paulus falsch liest, der verdunkelt die Geheimnisse Gottes anstatt sie zu sehen. So jemand kann nicht übergöttliche Geheimnisse wissen, sondern verbreitet nur Unwissenheit und Irrlehren. Das war schon im 1. Jahrhundert ein Problem, gegen das Paulus persönlich kämpfte. Nach ihm kämpften seine Schüler dagegen und danach deren Schüler. So wurde diese Aufgabe schließlich an Irenäus weitergegeben, der ein Schüler eines Apostelschülers war. Er schrieb Bücher gegen alle Irrlehren seiner Zeit, fünf Bücher „Gegen die Häresien“ wurden es am Ende. Worin bestand nun der peinliche Lesefehler der Gnostiker? Irenäus erklärt es uns:
Wie wir schon anderwärts und an vielen Stellen gezeigt haben, versetzt Paulus häufig die Wörter; wenn nun jemand nach dieser seiner Gewohnheit liest: „In ihnen hat Gott“, dann ein wenig absetzt und fortfahrend in eins liest: „dieser Welt ungläubige Herzen verblendet“, so wird er die Wahrheit finden: „Gott hat die Herzen der Ungläubigen dieser Welt verblendet.“ Das ergibt sich aus dem Absetzen. Denn nicht von einem Gott dieser Welt spricht Paulus, gleich als ob er über jenem noch einen andern kennen würde, sondern Gott bekannte er als Gott, aber die Ungläubigen nennt er von dieser Welt, weil sie die zukünftige Unvergänglichkeit nicht erben werden. Wie aber Gott die Herzen der Ungläubigen verblendet hat, das werden wir im Verlauf unserer Abhandlung aus Paulus selbst zeigen, um für jetzt nicht zu weit von unserm Thema abzuschweifen. (Irenäus von Lyon (130-202), Gegen die Häresien (BKV), Drittes Buch, 7. Kapitel: Exegese über 2 Kor. 4,4, 1.)
Diese Erklärung mag dich jetzt vielleicht verblüffen. Denn Irenäus verrät uns, dass wir wissen müssen, wie Paulus selbst sprach, damit wir seine Worte richtig lesen. Wenn du aber die Worte falsch betonst anstatt die richtigen Sprechpausen einzufügen, verdrehst du sie. Wie das?
Es liegt an den grundlegenden Unterschieden zwischen mündlicher und schriftlicher Rede. In der Schrift fällt der Ton weg, der kommt erst durch das Lesen hinein. Seit vielen Jahren leite ich täglich einen Hauskreis wo jeder Teilnehmer einen Abschnitt laut vorliest. Dabei erlebe ich jedes Mal live, wie viele Menschen Schwierigkeiten haben richtig vorzulesen. Ich muss immer wieder korrigieren, weil falsch betont wird. Eine Frage liest man anders als einen Befehl und wiederum anders als eine Aussage. Eine Ironie wird anders gelesen als eine Erklärung, eine Zurechtweisung anders als eine Entschuldigung. Und so weiter. Dabei haben wir es heute in allen modernen Sprachen wesentlich einfacher, denn sieh mal, was Irenäus und alle anderen Leser von Paulus damals vor sich hatten:
ει δε και εστιν κεκαλυμμενον το ευαγγελιον ημων εν τοις απολλυμενοις εστιν κεκαλυμμενον εν οις ο θεος του αιωνος τουτου ετυφλωσεν τα νοηματα των απιστων εις το μη αυγασαι αυτοις τον φωτισμον του ευαγγελιου της δοξης του χριστου ος εστιν εικων του θεου
Das ist der Griechische Grundtext von 2. Korinther 4,3-4. Was fällt auf? Es ist alles in einer Wurst geschrieben! Kannst du mir sagen, wo die Sinnabschnitte liegen, wo der Hauptsatz ist, wo Nebensätze anfangen und aufhören? Wenn du ehrlich bist, wirst du zugeben, dass du nicht einmal sehen kannst, wo Vers 3 aufhört und Vers 4 anfängt, oder? Selbst wenn du Griechisch könntest, wüsstest du das nicht mit Sicherheit, denn damals gab es weder Satzzeichen noch Versnummern. Es gab damals keine Fragezeichen, keine Rufzeichen, keine Beistriche, ja nicht mal Punkte! „Wie konnte man dann richtig lesen?“, fragst du jetzt vielleicht. Petrus nennt das Kind beim Namen:
In ihnen ist manches schwer zu verstehen, was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften, zu ihrem eigenen Verderben. (2.Petr 3,16)
Petrus spricht von den Paulusschriften, die verdreht werden von gewissen Leuten. Er ist also beim selben Thema wie Irenäus. Petrus sagt, es sind die Unwissenden und Ungefestigten, die den Sinn verdrehen. Und das wird bei der Betrachtung des Griechischen Textes offensichtlich. Wer nicht weiß, wie der Text richtig zu lesen ist, der verdreht ihn, so wie Irenäus es oben beschrieb. Und jetzt verstehen wir, warum die Gnostiker anders lasen als die Apostel. Denn sie wussten nicht, wo die Sinnabschnitte von Paulus lagen. Die Apostel aber wussten das, sie waren Wissende und gaben ihr Wissen an ihre Schüler weiter.
Es reicht also nicht, wenn man lesen kann. Es reicht auch nicht, wenn man Paulus in der Originalsprache liest. Denn beides schafften auch die Gnostiker und taten es. Da waren sie uns sogar weit voraus. Und doch haben sie ihn völlig falsch gelesen sodass das Gegenteil von dem herauskam, was Paulus meinte. Das Problem war, dass diese Leute nicht die Rhetorik von Paulus kannten, seine Art zu sprechen und zu diktieren (Paulus schrieb seine Briefe nicht eigenhändig, sondern diktierte sie). Daher verstanden sie nicht, Paulus zu lesen. Und das ist das Problem bis heute!
Wer von den heutigen Bibellesern kennt Paulus und hat seinen Wortklang, seine Art zu sprechen und Sätze zu betonen, in den Ohren? Das Problem beginnt heute schon viel früher: wir lesen alle in Übersetzungen. Wir können also gar nicht mehr den Originaltext von Paulus lesen, sondern verlassen uns auf Übersetzer. Wenn die nicht wissen, wie man Paulus richtig liest, wie wollen sie ihn dann richtig übersetzen? Schauen wir uns das näher an.