• Aber wer nannte das Christuskind überhaupt Emmanuel?

Beginnen möchte ich mit jenem Einwand, der erst seit wenigen Jahrhunderten vorgebracht wird. Es ist der letzte Punkt in der Liste oben. Schlagt man heute eine Bibel auf, so steht im Buch Jesaja die Prophezeiung dort so:

Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und wird seinen Namen Immanuel heißen. (Jes 7,14 ELB)

Da gibt es deutliche Abweichungen von der Prophezeiung, die Matthäus überlieferte. Einerseits ist der Name anders. Und andererseits sagt Jesaja im Alten Testament, die Jungfrau wird ihren Sohn Immanuel nennen. Aber im Neuen Testament schreibt Matthäus, dass laut Jesaja mehrere (nicht näher genannte) Menschen den Sohn Emmanuel nennen werden. „Man wird ihn Emmanuel nennen“, schreibt Matthäus wörtlich oder nach der Orthodoxen Lesart: „Sie werden ihn Emmanuel nennen“. Wäre das kein Zitat, könnte man ein Auge zudrücken und sagen, da treffen zwei verschiedene Meinungen oder Auslegungen aufeinander. Aber Matthäus behauptet ja, er zitiere Jesaja und markiert den Satz als wörtliche Prophetie, die erfüllt wurde. Dann geht das so nicht durch und wird zu einem Konflikt, den man in allen Bibeln sieht:

Bibel Jesaja 7,14 Matthäus 1,23
Luther 1545 Darum so wird euch der HErr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie heißen Immanuel. Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Emanuel heißen, das ist verdolmetschet, GOtt mit uns.
Luther 2017 Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel. »Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben«, das heißt übersetzt: Gott mit uns.
Schlachter 1951 Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau hat empfangen und wird Mutter eines Sohnes, den sie Immanuel nennen wird. »Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Emmanuel geben; das heißt übersetzt: Gott mit uns.«
Schlachter 2000 Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären und wird ihm den Namen Immanuel geben. »Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären; und man wird ihm den Namen Immanuel geben«, das heißt übersetzt: »Gott mit uns«.
Einheitsübersetzung 1980 Darum wird euch der Herr von sich aus ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben. Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, / einen Sohn wird sie gebären, / und man wird ihm den Namen Immanuel geben, / das heißt übersetzt: Gott ist mit uns.
MENGE Darum wird der Allherr selbst euch ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird guter Hoffnung werden und einen Sohn gebären, dem sie den Namen Immanuel geben wird. »Siehe, die Jungfrau wird guter Hoffnung und Mutter eines Sohnes werden, dem man den Namen Immanuel geben wird«, das heißt übersetzt: ›Mit uns ist Gott.‹ –
Textbibel Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Ein junges Weib wird schwanger werden und einen Sohn gebären und ihn Immanuel nennen. Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, was in der Übersetzung heißt: Gott mit uns.
Zürcher 1931 Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, das junge Weib ist schwanger und gebiert einen Sohn, und sie gibt ihm den Namen Immanuel «Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben», was übersetzt heisst: «Gott mit uns».
Leander van Ess 1859 Darum wird Gott selbst euch ein Zeichen geben: siehe! die Jungfrau wird schwanger werden, und einen Sohn gebären, und wird ihn nennen Immanuel (Gott mit uns). Siehe! eine Jungfrau wird schwanger seyn, und einen Sohn gebären; und sie werden ihn Emmanuel nennen, welches in unserer Sprache heißt: Gott mit uns!
King James Version Therefore the Lord himself shall give you a sign; Behold, a virgin shall conceive, and bear a son, and shall call his name Immanuel. Behold, a virgin shall be with child, and shall bring forth a son, and they shall call his name Emmanuel, which being interpreted is, God with us.

Diese Tabelle zeigt durchgängig das selbe Phänomen in allen Bibeln, auch in den Englischen (stellvertretend für alle englischsprachigen haben wir die auch heute noch dominante King James Bibel angeführt): Im Alten Testament im Buch Jesaja steht überall, dass die Jungfrau das Kind Immanuel nennen wird.

Manche Bibeln haben statt der Jungfrau bloß eine junge Frau angekündigt, was nicht das Selbe ist und das göttliche Zeichen zu einem alltäglichen normalen Vorgang macht. Darauf kommen wir noch. Im Neuen Testament jedoch im Matthäusevangelium steht nirgendwo, dass die Jungfrau ihren Sohn Emmanuel nennen wird, sondern das „man“ es tun wird oder „sie“ (Mehrzahl) es tun werden. Die Bibeln sind sich übrigens nicht einig, ob er Immanuel oder Emmanuel heißen soll. Manche schreiben sogar im Alten Testament den einen Namen, im Neuen den anderen. Wie soll man diese Unterschiede (und das waren noch nicht alle, die man erkennen und besprechen könnte) erklären und auflösen? Liegt es an den Übersetzern? Haben alle Bibeln falsch übersetzt? Und wenn ja, wo liegen sie falsch, im Alten oder im Neuen Testament?

Hier klärt ein Blick in die Septuaginta - das ist das Alte Testament, das Jesus und Seine Apostel damals hatten - alles auf. Dort steht in Jesaja 7,14:

δια τουτο δωσει κυριος αυτος υμιν σημειον ιδου η παρθενος εν γαστρι εξει και τεξεται υιον και καλεσεις το ονομα αυτου εμμανουηλ

Die Septuaginta Deutsch übersetzt das so:

Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben; siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und du wirst (orthodoxe Lesart: sie werden) ihm den Namen »Emmanuel« geben.

Das ist exakt der Wortlaut, den Matthäus schrieb und der mehr oder weniger in jeder Bibel genauso im Matthäusevangelium steht (mit Ausnahme des Namens Emmanuel, den heute viele Bibeln Immanuel schreiben, aber darauf kommen wir noch).

Damit wäre also die erste Frage geklärt, ob Matthäus falsch zitierte oder die Bibeln falsch übersetzt haben. Beides kann man getrost mit Nein beantworten. Der Fehler liegt weder beim Autor noch bei den Übersetzern, sondern allein beim Grundtext. Die meisten Bibeln verwenden heute leider nicht die griechische Septuaginta als Grundtext für ihr Altes Testament sondern den hebräischen Masoretentext - und der weicht eben von der Septuaginta (LXX) ab und erst dadurch entstehen die genannten Widersprüche (und viele andere!) zum Neuen Testament. Das ist aber ein spezielles Problem unserer Zeit, das die frühen Christen nicht kannten, weil sie alle die LXX verwendeten. Die Bibel von Benjamin Fotteler trägt dem Rechnung und verwendet daher für ihr Altes Testament die Septuaginta. Deswegen stimmen dort die Zitate in beiden Testamenten überein:

Bibel Jesaja 7,14 Matthäus 1,23
FBÜ-Bibel 2022

Deshalb wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und du wirst seinen Namen Emmanuel nennen.

»Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Emmanuel nennen«, was übersetzt heißt: Mit uns ist Gott.

Die Formulierungen „man wird“, „du wirst“  oder „sie werden“ bedeuten dasselbe und beziehen sich allesamt nicht auf die Jungfrau. Es handelt sich um verschiedene Lesarten des griechischen Grundtextes mit dem selben Sinn. Wer damit gemeint ist, werden wir weiter unten noch sehen. Wir haben jetzt also geklärt und bewiesen, dass Matthäus richtig zitierte. Er zitierte die Septuaginta und nicht den hebräischen Masoretentext. Und deswegen schrieb Matthäus auch nicht, dass die Jungfrau ihren erstgeborenen Sohn Emmanuel nennen würde. Das behauptet ja nur der Masoretentext, doch der war für die Apostel nicht das Wort Gottes. Und somit braucht man sich auch nicht daran stoßen, dass Maria ihren Sohn nicht Emmanuel nannte, denn es war in Wahrheit auch nicht vorhergesagt worden von Jesaja.