Jesus führte einmal ein neues, unbekanntes Gebot an. Neu und unbekannt ist es aber nur für jene, die die Apokryphen nicht kennen.
Als Jesus sich gerade wieder auf den Weg machte, kam ein Mann angelaufen, warf sich vor ihm auf die Knie und fragte: „Guter Rabbi, was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?“ Jesus antwortete:
„Du kennst doch die Gebote: 'Du sollst nicht morden, nicht die Ehe brechen, nicht stehlen, du sollst keine Falschaussagen machen und niemand um das Seine bringen; ehre deinen Vater und deine Mutter!'“ (Markus 10,19 NeÜ)
Diese Antwort Jesu bringt seither viele Theologen und Bibelübersetzer in Verlegenheit. Denn erstens folgen sie oft einer Theologie, die eine andere Antwort auf diese Frage vorschreibt und Jesu Antwort eigentlich ablehnt. Darauf gehen wir hier nicht ein. Zweitens zählt Jesus hier ein Gebot auf, das sonst nirgendwo in der Bibel steht und ihnen also neu ist. Dem widerspricht aber Jesu Einleitung „Du kennst doch die Gebote". Die modernen Bibelübersetzer und Theologen kennen dieses Gebot aber nicht, außer von Jesus. Und Er sagt es nur an dieser einen Stelle in Markus 10,19. Es gibt sogar einen Fachbegriff für so einen Fall: „hapax legomena". Und darauf wollen wir hier eingehen.
Das Problem besteht ja nicht nur in dem scheinbaren Widerspruch, dass der Herr Jesus behauptet, Sein Zuhörer würde dieses Gebot kennen, und es aber nirgendwo im Gesetz Moses oder den Propheten geschrieben steht. Sondern auch in der Wortwahl. Denn der Herr sagte im Griechischen Original lediglich zwei Worte: μὴ ἀποστερήσῃς (me aposterēsēs). Diese zwei Worte allein sind schwierig zu übersetzen, wenn der Bezug fehlt. Und dieser fehlt, denn - wie bereits gesagt - kommen sie so in keiner anderen Stelle der Bibel vor. Die Übersetzer sind somit auf ihre Phantasie angewiesen, was sich in den vielen verschiedenen Übersetzungsvarianten dieser zwei Wörter niederschlägt. Die Neue evangelistische Übersetzung und die Neue Genfer Übersetzung übersetzen sie wie oben zitiert mit „du sollst niemand um das Seine" bringen", die Elberfelder mit „du sollst nichts vorenthalten", Luther übersetzte „du sollst niemand täuschen", Johann Albrecht Bengel machte daraus „du sollst niemand Abbruch tun", Abraham Meister hingegen „Du sollst keinen Schaden zufügen!", die Schlachter 2000 schreibt „Du sollst nicht rauben!", die Hoffnung für alle wiederum „Du sollst nicht betrügen!" und die Menge Bibel interpretiert es als „keinem das ihm Zukommende vorenthalten". Und so weiter. Wie soll man das Bild, das sich bei diesem Vergleich der Übersetzunsvorschläge ergibt, nennen? Rätselraten? Würfeln? Spekulieren? Das einzige, was alle Übersetzer gemeinsam haben ist, dass sie nicht mit zwei Worten auskommen. Sie brauchen mehr Worte als Jesus brauchte und schwanken zwischen einer Vielzahl von Varianten. Die Unwissenheit und Unsicherheit der Übersetzer ist unterm Strich das Einzige, was hier mit Sicherheit zu sehen ist. Beschämend, weil es sich immerhin um Herrenworte handelt! Der Herr Jesus sagte ein Gebot und wir wissen heute weder, woher es kommt noch wie es wirklich lautet? Ist das unser Verständnis von einer zuverlässigen Bibelübersetzung?
Des Rätsels Lösung ist wirklich beschämend und einfach zugleich. Denn Jesus zitierte tatsächlich ein altes, damals jedem bekanntes, Gebot aus der Schrift. Und zwar aus dem Buch Jesus Sirach. Hier die Gegenüberstellung.
Jesus Sirach 4,1 | Markus 10,19 |
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Mein Sohn, entziehe dem Armen nicht den Lebensunterhalt und laß die Augen der Dürftigen nicht lange schmachten. | Du kennst die Gebote: ›Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht falsches Zeugnis ablegen, keinem das ihm Zukommende vorenthalten, ehre deinen Vater und deine Mutter!‹« |
Menge Bibel | Menge Bibel |
Τέκνον, τὴν ζωὴν τοῦ πτωχοῦ μὴ ἀποστερήσῃς καὶ μὴ παρελκύσῃς ὀφθαλμοὺς ἐπιδεεῖς. | Τὰς ἐντολὰς οἶδας, μὴ μοιχεύσῃς, μὴ φονεύσῃς, μὴ κλέψῃς, μὴ ψευδομαρτυρήσῃς, μὴ ἀποστερήσῃς, tίμα τὸν πατέρα σου καὶ τὴν μητέρα. |
Der Wortlaut ist auf den ersten Blick doch sehr verschieden. Niemand, der die Menge Bibel liest, erkennt, dass Jesus Christus das Gebot aus Jesus Sirach zitiert, obwohl diese Bibel beide Bücher übersetzt hat und beinhaltet. Doch wenn man den Griechischen Text der beiden Stellen vergleicht, dann ist es sofort zu erkennen: Es sind genau diese zwei Worte μὴ ἀποστερήσῃς (me aposterēsēs), die Jesus zitierte. Und sie kommen tatsächlich sonst nirgendwo vor.
Die Hintergrundgeschichte
Das Gebot in Jesus Sirach schaut in voller Länge auf Griechisch so aus:
τὴν ζωὴν τοῦ πτωχοῦ μὴ ἀποστερήσῃς
Transkribiert:
tēn zōēn tou ptōchou mē aposterēsēs
Wörtlich übersetzt:
„Das Leben des Armen entziehe nicht“
Der Herr Jesus sagte in Markus 10,19 davon nur die letzten beiden Worte und jeder Zuhörer wusste, dass Er damit genau dieses Gebot zitierte. Das hat mehrere Gründe.
Erstens war das damals eine beliebte Praxis. Die Leute prägten sich gewisse Weisheitssprüche oder Gebote im ganzen Wortlaut ein, zitierten aber oft im Gespräch nur den Kern davon und jeder Zuhörer ergänzte im Kopf für sich selbst den fehlenden Teil. Im Prinzip machen wir das heute auch noch gerne so. Wenn zum Beispiel jemand sagt „Die Wege des Herrn...“ und mit der Stimme oben bleibt, dann weiß jeder, dass der Satz nicht fertig ist und noch ergänzt gehört. Die Ergänzung kennen die Zuhörer und denken für sich den Satz folgendermaßen zu Ende „... sind unergründlich.“ Oder es sagt jemand „Was du heute kannst besorgen ...“ und alle Zuhörenden denken in ihrem Kopf den Satz korrekt fertig: „das verschiebe nicht auf morgen.“ Diese Praxis der unvollständigen Zitation mit implizitem Verständnis ist in unserer Kommunikation verwurzelt. Wir setzen auch heute darauf, dass bestimmte Sätze oder Redewendungen so bekannt sind, dass sie nicht vollständig ausgesprochen werden müssen, um ihre volle Bedeutung zu entfalten. Das kommt in vielen Situationen unseres Alltags zur Anwendung, sogar in Werbeslogans und Kinofilmen bedient man sich gerne dieser Praxis. Sie funktioniert natürlich nur, wenn alle Zuhörer die selbe Kultur und Sprachkenntnis wie der Sprecher haben. Und genau das war damals der Fall. Das ist der zweite Grund. Der einzige Unterschied zu heute war nur, dass im antiken Griechisch (und übrigens auch Hebräisch) oft das Ende solcher Sprüche der prägnante Kern war, und nicht wie bei unseren modernen linearen Sprachen der Anfang. Das liegt im Wesen der Sprache und ihrer Grammatik, die damals verschachtelt war, das Wichtige, Entscheidende im Satz kam oft zum Schluss. Und das war dann quasi die Erkennungsmelodie, der Slogan. Es war nicht unüblich, das Satzende zu zitieren.
Damals konnte jeder Koine-Griechisch, das Griechisch in dem die Septuaginta und später das Neue Testament geschrieben war und in dem Jesus Christus lehrte, die meisten hatten es sogar als ihre Muttersprache, und jeder Jude kannte die Septuaginta oder wenigstens die bekanntesten Passagen daraus. Das Buch Jesus Sirach war damals sehr populär und viel zitiert. Das war bei den Juden übrigens bis weit ins Mittelalter noch so. Das ist der dritte Grund. Und der vierte ist, dass diese zwei Worte „mē aposterēsēs“ („entziehe nicht“), einzigartig sind in der Schrift. Sie kommen an keiner anderen Stelle der Heiligen Schrift sonst in dieser Kombination vor. Deswegen reichte es völlig, dass Jesus nur diese beiden aussprach und jeder Schriftgelehrte wusste, was gemeint war. Es war eindeutig ein wörtliches Zitat aus Jesus Sirach 4,1. Und aus Jesu einleitenden Worten „Du kennst doch die Gebote“ kann man glasklar schließen, dass Ihm bewusst war, dass Sein Zuhörer dieses Gebot kannte - genauso wie alle anderen, die Er im selben Atemzug aufzählte. Könnte das der Herr heute auch noch so selbstverständlich voraussetzen bei Seinen Zuhörern? Und wenn nein, wer oder was ist dafür verantwortlich?
Es ist übrigens eine bemerkenswerte Liste von Geboten, die der Herr Jesus aufzählte. Wir werden sie an einer anderen Stelle näher analysieren. Hier sei zum Abschluss nur noch darauf hingewiesen, dass Jesus nie nur das Gesetz Moses zitierte, wenn Er von „den Geboten“ sprach, sondern etliche andere Bücher auch. Es war auch nicht das erste Mal, dass Er ein Gebot aus dem Buch Jesus Sirach zitierte. Er tat das bereits in Seiner Bergpredigt. Dort zitierte Er auch schon ein weiteres Gebot aus dem selben Kapitel 4 von Jesus Sirach. Wir haben dem einen eigenen Beitrag gewidmet: Wende dich nicht ab. Und auch das war noch nicht alles, wie wir ebenfalls bereits in anderen Beiträgen vorführten (z.B.: Mach nicht viele Worte, Vergeben um Vergebung zu erlangen oder Schätze im Himmel sammeln). Und damit bestätigte der Herr Jesus Christus auch das Buch Jesus Sirach und die Autorität der darin enthaltenen Gebote.
Aber denjenigen, die das Buch Jesus Sirach nicht kennen (oder nicht kennen wollen), entgeht das komplett. Und die Übersetzer, die das Buch Jesus Sirach und dessen Gebote nicht kennen, sind gar nicht in der Lage das Gebot, das Jesus Christus in Markus 10,19 aufzählt, richtig zu übersetzen. Das beweisen alle modernen Bibelübersetzungen heute, wie bereits eingangs gezeigt. Keine von ihnen trifft den Wortlaut richtig. Er müsste, wie hier dargelegt, schlicht „entziehe nicht“ heißen. Das harmoniert nicht nur mit der Anzahl der Worte, die der Herr Jesus sagte, sondern auch mit dem Gebot, das Er in Wahrheit meinte. Der Textus Receptus schreibt, um die Gebote auch säuberlich voneinander zu trennen, übrigens jedes Gebot in Jesu Aufzählung mit jeweils großem Anfangsbuchstaben:
Τὰς ἐντολὰς οἶδας, Μὴ μοιχεύσῃς, Μὴ φονεύσῃς, Μὴ κλέψῃς, Μὴ ψευδομαρτυρήσῃς, Μὴ ἀποστερήσῃς, Τίμα τὸν πατέρα σου καὶ τὴν μητέρα.
Und daran sieht man, dass Jesus tatsächlich nur diese zwei Worte als ein eigenes Gebot aussprach. Ein Gebot übrigens, das bis heute nichts an Aktualität und Brisanz eingebüßt hat. Denn es begnügt sich nicht damit, die Hilfsbereitschaft und Spendenfreudigkeit anzukurbeln und Werbung für Wohltätigkeit zu machen, sondern verurteilt in Wahrheit alle jene, den den Armen ihre Lebensgrundlage entziehen. Dem Herrn gefällt es also gar nicht, wenn wir den Armen ihre Lebensgrundlage entziehen und sie anschließend – um unser Gewissen zu beruhigen – mit Geld- oder Sachspenden abspeisen. Jesus Christus setzt also schon viel früher an mit Seinen Geboten und Moralvorstellungen. Es ist ein Gebot gegen Charity-Aktionismus und Scheinheiligkeit und für wahre Gerechtigkeit. Doch auch davon an anderer Stelle mehr.