Weisheitsliteratur wurde geschrieben, damit wir weise werden. Was aber, wenn darin widersprüchliche Anweisungen stehen? Offenbaren diese dann nicht eher menschliche Dummheit als göttliche Weisheit?
Auf solch eine widersprüchliche, nutzlose Anweisung stieß ich in meiner Jugend beim Bibellesen in Sprüche 26. In Vers 4 stand die Anweisung:
Antworte dem Toren nicht nach seiner Torheit, dass du ihm nicht gleich wirst.
Doch gleich im nächsten Vers 5 stand genau das Gegenteil:
Antworte aber dem Toren nach seiner Torheit, dass er sich nicht weise dünke.
Wie sollte ich einem Toren nun antworten? Nach seiner Torheit oder nicht? Ich war verwirrt.
Ich wusste, dass das Buch der Sprüche von König Salomo geschrieben wurde. Die Schrift sagt, dass er der weiseste aller Menschen war, der je auf Erden lebte:
Und Gott gab Salomo sehr große Weisheit und Verstand und einen Geist, so weit, wie Sand am Ufer des Meeres liegt, dass die Weisheit Salomos größer war als die Weisheit von allen, die im Osten wohnen, und als alle Weisheit Ägyptens. Und er war weiser als alle Menschen, auch weiser als Etan, der Esrachiter, Heman, Kalkol und Darda, die Söhne Mahols, und war berühmt unter allen Völkern ringsum. Und er dichtete dreitausend Sprüche und tausendundfünf Lieder. Er dichtete von den Bäumen, von der Zeder an auf dem Libanon bis zum Ysop, der aus der Wand wächst. Auch dichtete er von den Tieren des Landes, von Vögeln, vom Gewürm und von Fischen. Und aus allen Völkern kamen sie, zu hören die Weisheit Salomos, und von allen Königen auf Erden, die von seiner Weisheit gehört hatten. (1.Kön 5,9-14)
Einer dieser dreitausend Sprüche war nun dieser, wie man einem Toren (also einem Dummkopf) antworten solle. Und ich wurde nicht schlau daraus und war verwirrt, wie es ein Wanderer sein muss, der vor einem Wegweiser steht, der in zwei entgegengesetzte Richtungen zeigt, aber in jede Richtung die selbe Aufschrift hat. Wohin soll es nun gehen? Der Wegweiser gibt keine Hilfe, er ist nutzlos. Der Wanderer muss allein entscheiden wo er gehen soll. So ein Wegweiser ist genauso hilfreich wie keiner. Und genauso kam mir diese Anweisung vom dem angeblich weisesten aller Männer vor. Ich hatte zwei Erklärungen dafür:
- Der Autor weiß nicht was er sagt, ist also dumm.
- Es ist im Grunde egal, was man macht. Damit ist die Anweisung aber überflüssig. Die zwei Verse könnte man getrost aus der Bibel streichen.
Beides passte nicht zu meinem Bild von Solomo, wonach er der weiseste aller Männer war. Seine Weisheit wird in der Bibel hoch gelobt. Niemand, den ich in meiner Gemeinde fragte, konnte mir eine Erklärung geben. Offenbar lasen alle über diese Verse hinweg als stünden sie nicht da. Mich ließen diese widersprüchlichen Sätze aber nicht los. Bis ich ein Schlüsselerlebnis hatte: ich beobachtete eines Tages, wie eine Bande von Jugendlichen heimlich Wegweiser absichtlich verdrehte und sich dann über die Menschen lustig machte, die deswegen in die falsche Richtung gingen. Es gab also Menschen, die hatten eine Freude daran, wenn andere in die Irre gingen. Es machte ihnen Spaß. Schuld war also nicht derjenige, der den Wegweiser beschriftete und aufstellte, sondern diejenigen, die ihn im Nachhinein absichtlich verdrehten. Vielleicht waren auch solche Leute in meiner Bibel am Werk? Wie würde ich dahinter kommen? Auch diese Frage wurde mir durch meine Beobachtung der eben geschilderten Szene beantwortet, denn ich bemerkte, dass nicht alle in die falsche Richtung liefen. Einige ließen sich von dem falsch ausgerichteten Wegweiser nicht irritieren und gingen trotzdem in die richtige Richtung. Sie kannten offenbar den Weg. Viele von denen schüttelten den Kopf als sie den Wegweiser sahen, andere lachten nur darüber und beachteten ihn nicht weiter. Also suchte ich nach Leuten, die den richtigen Weg kannten und nicht auf den falschen Wegweiser herein fielen. Ich schlug in anderen Bibeln, die ich zu Hause hatte, diese Stelle nach. Doch sie sagten praktisch alle dasselbe. Überall war dieser Widerspruch glasklar zu sehen:
Übersetzung | Sprüche 26 |
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LUT |
4 Antworte dem Toren nicht nach seiner Torheit, dass du ihm nicht gleich wirst. 5 Antworte aber dem Toren nach seiner Torheit, dass er sich nicht weise dünke. |
ELB |
4 Antworte dem Toren nicht nach seiner Narrheit, damit nicht auch du ihm gleich wirst! 5 Antworte dem Toren nach seiner Narrheit, damit er nicht weise bleibt in seinen Augen! |
EÜ |
4 Antworte dem Toren nicht, wie es seine Dummheit verdient, damit nicht auch du ihm gleich wirst! 5 Antworte dem Toren, wie es seine Dummheit verdient, damit er sich nicht einbildet, ein Weiser zu sein! |
SCH2000 |
4 Antworte dem Narren nicht nach seiner Narrheit, damit nicht auch du ihm gleich wirst; 5 antworte aber dem Narren nach seiner Narrheit, damit er sich nicht für weise hält. |
MENGE |
4 Antworte dem Toren nicht im Anschluß an seine Narrheit, damit du selbst ihm nicht gleich wirst; 5 antworte dem Toren im Anschluß an seine Narrheit, damit er sich nicht selbst weise dünkt. |
Ich suchte noch angestrengter und fand meine alte Gute Nachricht, die ich schon lange nicht mehr las, weil mir einige Bibellehrer sagten, sie sei nicht richtig übersetzt. Nun wollte ich es wissen und schlug besagte Stelle dort nach:
GN |
4 Gib dem Dummen keine Antwort, die sich auf die Ebene seiner Dummheit begibt, damit die Leute dich nicht selbst für dumm halten! 5 Gib dem Dummen eine Antwort, wie seine Dummheit sie verdient, damit er sich nicht selbst für klug hält! |
Interessant, das war ein leicht abweichender Wortlaut, und damit aber tatsächlich eine andere Bedeutung und noch dazu die erste sinnvolle, die ich bisher las! Hatten die Übersetzer der Guten Nachricht die Dummheit des Grundtextes erkannt und es als einzige gewagt, hier eigenmächtig einen sinnvolleren Text daraus zu machen? War das Übersetzungsfreiheit oder mehr dahinter?
Auf die richtige Antwort sollte ich noch Jahrzehnte warten. Erst als ich Mitte Vierzig David Bercot las und durch ihn auf die frühen Christen aufmerksam wurde, entdeckte ich durch die Schriften und Zitate der frühen Christen die Septuaginta. Das erinnerte mich an die von mir beobachtete Szene in meiner Jungend. Denn da war auch noch ein anderer Mann, der nicht nur den Kopf schüttelte als er den absichtlich falsch verdrehten Wegweiser sah, sondern richtig zornig rot im Gesicht wurde und kurzentschlossen den Wegweiser wieder in die richtige Richtung drehte. Dieser Mann kannte also nicht nur den richtigen Weg und die richtige Stellung des Wegweisers, sondern ärgerte sich so sehr über dessen falsche Ausrichtung, dass er eingriff und alles wieder richtig stellte. So ein Mann war in meinem Leben David Bercot. Er stellte die verdrehten Wegweiser durch seine Bücher und Vorträge wieder richtig, damit die unwissenden Wanderer in Zukunft nicht mehr in die falsche Richtung abbiegen. Also schlug ich voller Spannung meine neu erstandene Septuaginta Deutsch auf und las in den Sprüchen Salomos Kapitel 26:
4 Antworte dem Unverständigen nicht mit Rücksicht auf seinen Unverstand, damit du ihm nicht ähnlich wirst,
5 sondern antworte dem Unverständigen entsprechend seinem Unverstand, damit er nicht vor sich selbst weise erscheint. (LXX Deutsch)
Und siehe da, der Weisheitsspruch (!) macht auf einmal Sinn!
Die Septuaginta ist eigentlich auf Griechisch geschrieben worden (mittlerweile aber Gott sei Dank in andere Sprachen übersetzt, wie zum Beispiel Deutsch und Englisch), hier der Griechische Text:
4 μη αποκρίνου άφρονι κατά την εκείνου αφροσύνην να μη όμοιος γένη αυτώ
5 αλλά αποκρίνου άφρονι προς την εκείνου αφροσύνην ίνα μη φαίνηται σοφός παρ΄ εαυτώ (ABP Greek)
Man muss nicht griechisch können, um zu erkennen, dass die beiden Satzteile (grün markiert) auf Griechisch nicht ident sind, sondern abweichende Worte enthalten. Es ist also eindeutig, dass in Vers 4 und 5 nicht zweimal die selbe wortgleiche Anweisung steht, wie uns aber die Bibeln alle weismachen, die den MT als Grundtext haben.
Nun erkannte ich, dass die Gute Nachricht offenbar an der Stelle lieber die Septuaginta heranzog als den sonst üblichen Masoretentext. Und ich fand noch andere Bibeln, die die Nutzlosigkeit des MT an der Stelle offenbar erkannt haben und lieber dem sinnvollen und weisen Wortlaut der LXX folgen:
Hfa |
4 Antworte nicht auf eine dumme Frage, sonst begibst du dich auf die gleiche Ebene mit dem, der sie gestellt hat! 5 Oder gib die passende Antwort auf eine dumme Frage! So merkt der, der sie gestellt hat, dass er nicht so klug ist, wie er denkt. |
NLB |
4 Lass dich nicht auf die dummen Argumente eines Narren ein, denn sonst stellst du dich ihm gleich. 5 Widerlege die dummen Argumente des Narren, damit er sich nicht für weise hält. |
Es liegt also nicht an den Übersetzern und schon gar nicht an Gott, dass die Bibel widersprüchlich und sinnlos erscheint, sondern an dem Masoretentext, der leider heute von vielen verblendeten Bibelgesellschaften und -lehrern als verlässliches Wort Gottes betrachtet und verwendet wird. An der Stelle sieht man wieder einmal, dass das nicht stimmt. Denn Gott ist in Wahrheit weder widersprüchlich noch dumm. Im Gegenteil, er ist wahrhaftig und weise. Deswegen kennt Er den feinen Unterschied und weist uns darauf hin, wie jeder Weise es tut. Und das kommt nur in der LXX, die von Jesus weg über die Apostel bis hin zu den frühen Christen alle Christen lasen, wirklich zum Ausdruck.