Im Buch Tobit steht ein weltberühmter Satz, den jeder kennt. Der wird von Jesus aufgegriffen. Das wiederum weiß nicht jeder.

Wir leben in einem Zeitalter der Sprüche und Zitate. Jeder liebt es, knackige Sprichwörter oder Zitate von berühmten Menschen zu verwenden. Kaum eine Homepage heute, die nicht darauf verzichtet. Dabei ist den Menschen oft nicht bewusst, wie oft sie die Heilige Schrift zitieren. Etwa in folgendem Fall:

Tobit 4,15 Mt 7,12
Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!
Lutherbibel 2017 Lutherbibel 2017

Das ist die sogenannte Goldene Regel. Wer kennt sie nicht? Aber wer weiß, dass sie in der Bibel steht, und zwar nicht nur sinngemäß, sondern wortwörtlich im Buch Tobit? Von Jesus wird sie in der Bergpredigt im Neuen Testament wiederverwertet.

Die Hintergrundgeschichte

Der berühmte, prägnante Reim stammt aber eher nicht von Martin Luther, denn der übersetzte den Satz ungereimt und umgekehrt formuliert in seiner Bibel von 1545:

„Was du wilt das man dir thue / das thu einem andern auch. Matt. 7.“ (Tobit 4,15 Lutherbibel 1545)

Und wir sehen hier, dass Luther nicht nur bewusst war, dass Jesus diesen Satz zitierte, sondern den Verweis auch in seine Bibel schrieb. Mindestens drei Dinge sind daran bemerkenswert.

  1. Luther mochte die Apokryphen nicht, sondern behauptete, sie gehören gar nicht zur Heiligen Schrift und wertete sie in seinen Vorreden wortreich ab.
  2. Dennoch übersetzte Luther die Apokryphen und nahm sie in seine Bibelübersetzung auf. Zwar nicht im regulären Teil, aber im Anhang, mit entsprechender Notiz und Vorwort. Wir haben das im Beitrag über die Apokryphen dargelegt.
  3. Luther erkannte aber, dass Jesus Christus die Apokryphen zitierte und hat - wie in diesem Fall schön zu sehen - das nicht nur in seiner Bibel entsprechend mit einem Verweis auf Matthäus 7 markiert, sondern seine Übersetzung von Tobit auch noch an Jesu Wortlaut angepasst!

Denn in Matthäus 7,12 sagt Jesus laut der Lutherbibel von 1545 folgendes:

Alies nu / das jr wöllet / das euch die leute thun sollen / Das thut jr jnen / Das ist das Gesetz vnd die Propheten. Luc. 6.

In der moderneren Schreibversion der Lutherbibel 1545 sieht das so aus:

Alles nun, was ihr wollet, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen; das ist das Gesetz und die Propheten. (Mt 7,12 Lutherbibel 1545)

Das ist die Goldene Regel, und zwar in der positiv formulierten Form. Man soll andere so behandeln, wie man auch von ihnen behandelt werden will.

Allerdings existiert diese positive Formulierung erst seit Jesus Christus.

Davor wurde die Goldene Regel immer negativ formuliert, also anders herum, nämlich dass man das nicht tun soll, was man auch selbst nicht haben will. So ist die Formulierung auch von Konfuzius überliefert:

Was du selbst nicht wünschst, das tue auch anderen nicht an. (Konfuzius: Gespräche, Lun-Yu. Reclam, Ditzingen bei Stuttgart 1998, Übersetzer Ralf Moritz).

Konfuzius lebte im 6. bis 5. Jahrhundert vor Christus. Viele Menschen (vor allem Atheisten, Kommunisten und alle anderen, die die Bibel nicht mögen) denken daher, dass Jesus in seiner Bergpredigt Konfuzius zitierte. Dabei übersehen sie aber einige Dinge:

  1. Konfuzius schrieb nie selbst etwas auf.
  2. Konfuzius hatte zu seinen Lebzeiten keinen Erfolg.
  3. Nach seinem Tod bauten seine Schüler seine Lehre aus, verfassten Schriften, und gewannen Einfluss. Manche dieser Schriften waren aber sogar verboten im chinesischen Kaiserreich.
  4. Die ältesten Texte sind aus dem 2. Jahrhundert vor Christus. Was aber davon tatsächlich von Konfuzius stammte und was hingegen seine Schüler im Laufe der Jahrhunderte ausbauten und dazu dichteten, kann heute niemand sagen.
  5. Aufgeschrieben wurden die meisten Sprüche aber erst Jahrhunderte nach Christus! Zum Beispiel in den um 200 n. Chr. aufgeschriebenen Analekten, wo auch dieser Spruch herkommt.

Jesus konnte diesen Spruch also gar nicht von Konfuzius lesen oder gar abschreiben, denn erstens war China weit weg und zweitens existierten zu Jesu Zeiten diese schriftlichen Analekten mit dem Spruch noch nicht. Aber es existierte eine andere Schrift, und die war genau in der Gegend vorhanden wo Jesus lebte und lag in allen Synagogen auf, nämlich die Septuaginta, die seit zwei Jahrhunderten die Heilige Schrift der Juden war. Und darin war das Buch Tobit enthalten. Und dort stand:

Und was du verabscheust, tue keinem anderen an. (Tobit 4,15 Septuaginta Deutsch)

Das Buch Tobit handelt von dem gottesfürchtigen Juden Tobit, der in Ninive in der Diaspora lebte, wurde um ca. 200 v. Chr. in einer semitischen Sprache aufgeschrieben, dann ins Griechische übersetzt und so in die Septuaginta aufgenommen. Darin lehrte Tobit bereits die Goldene Regel, neben weiteren Weisheitssprüchen, die er seinem Sohn Tobias mit auf die Reise gab. Sie war im ganzen Judentum zur Zeit Jesu bekannt und in jeder Synagoge nachzulesen. Jesus lehrte also nichts neues. Er zitierte Tobit, aber formulierte den Satz erstmals positiv. Das war neu. Denn alle Denker und Dichter der Antike formulierten die Regel stets negativ, wie Konfuzius und Tobit und einige römische und griechische Autoren auch. Sie schrieben aber alle erst nach Tobit und zitierten ihn höchstwahrscheinlich sogar. Denn die frühen Christen argumentierten oft und gerne gegenüber den Griechen und Römern, dass deren Philosophen und Dichter alle von der Heiligen Schrift der Juden inspiriert waren und abschrieben. Das schrieb zum Beispiel Justin der Märtyrer in seinen beiden Apologien (BRIEFE DER VERTEIDIGUNG) sogar direkt an den Römischen Kaiser und den Senat.

Für Martin Luther war es, wie oben gezeigt, sonnenklar, dass Jesus Tobit zitierte und er machte das sogar durch einen Kunstgriff in seiner Übersetzung für alle seine Leser sichtbar, indem er Tobit umformulierte, sodass der Satz bei Tobit genauso positiv klingt wie bei Jesus. Später, nach Luthers Tod, wurde dieser Übersetzungsfehler mehrmals korrigiert.

1912 war der Satz so:

Was du nicht willst, daß man dir tue, das tu einem andern auch nicht. (Tobit 4,15 Lutherbibel 1912)

Und seit 2017 steht der Satz dann schließlich in dem bekannten Reim:

Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! (Tobit 4,15 Lutherbibel 2017)

Die Goldene Regel in der negativen Form (Tobit, Konfuzius) ist:

  • Ich möchte nicht von dir angelogen werden, daher lüge ich dich auch nicht an.
  • Ich möchte nicht von dir beraubt werden, daher beraube ich dich auch nicht.
  • Ich möchte nicht von dir betrogen werden, daher betrüge ich dich auch nicht.
  • Ich möchte nicht von dir ermordet werden, daher ermorde ich dich auch nicht.

Und so weiter. Diese negative Form bringt wie das Gesetz Moses nicht die ganze Fülle, denn sie ist nur darauf aus nichts Böses zu erleiden. Der Herr ist gekommen, um das Gesetz und die Propheten zu erfüllen, wie Er in der Einleitung Seiner Bergpredigt sagt:

Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. (Matthäus 5,17)

Laut den frühen Christen wie Irenäus meinte Jesus mit „erfüllen“, dass Er das Gesetz „voll machen“, also „zur ganzen Fülle bringen“ wird, denn das Gesetz war noch nicht vollkommen. Wie Jesus es zur ganzen Fülle brachte, lesen wir in der Bergpredigt.

Die Goldene Regel des Herrn in der positiven Form bringt die ganze Fülle, ist also vollkommen, denn sie bewirkt zusätzlich zur Unterlassung der bösen auch die bewusste Ausübung der guten Werke am Nächsten.