• Und was es braucht, um ihn richtig zu verstehen.

Dass der Apostel Paulus von vielen missverstanden oder falsch gelesen wird, ist keine Neuheit, sondern begann schon zu seinen Lebzeiten und nahm nach seinem Tod beständig zu. Die Ursachen dafür beschäftigten daher von Beginn an die guten Lehrer des Christentums und brachte wohl keiner goldrichtiger auf den Punkt als Johannes Chrysostomus, der „Goldmund“, der schon vor 1700 Jahren seine Predigtserie über den Römerbrief mit folgenden Worten begann:

Immer wenn ich aus den Briefen des hl. Paulus vorlesen höre — und es ist dies wöchentlich zweimal der Fall, oft aber auch dreimal und viermal, wenn wir nämlich Gedächtnistage heiliger Märtyrer feiern —, erfreue ich mich daran, den Schall dieser geistigen Posaune zu genießen. Ich gerate in Entzücken und erglühe vor Sehnsucht, wenn ich diese mir so liebe Stimme vernehme, und es kommt mir vor, als sähe ich den Apostel, im Sprechen begriffen, wie leibhaftig vor mir stehen.

Ich bedaure es, und es tut mir weh, daß nicht alle diesen Mann kennen, wie sie es sollten, sondern daß manche so wenig Kenntnis von ihm haben, daß sie nicht einmal die Zahl seiner Briefe genau wissen. Das kommt aber nicht von Wissensunfähigkeit, sondern weil sie nicht beständig mit diesem Heiligen vertrauten Umgang pflegen wollen. Denn auch wir danken unser Wissen von ihm, wenn wir ein solches besitzen, nicht unserer Begabung und Geistesschärfe, sondern dem beständigen Umgang mit diesem Manne und unserer innigen Verehrung für ihn. Denn geliebte Menschen kennen vor allen andern gerade die gut, welche sie lieben, weil sie ihnen am Herzen liegen.

Das will auch unser Heiliger ausdrücken, wenn er im Briefe an die Philipper sagt; „Wie es billig ist, daß ich für euch diese Gesinnung hege, weil ich euch im Herzen habe, in meinen Banden und bei der Verteidigung und Befestigung des Evangeliums“. Wenn ihr darum nur der Vorlesung (aus dem Apostel) mit Zuneigung folgen wollt, so braucht ihr nichts weiter; denn untrüglich ist das Wort Christi, das er gesprochen hat: „Suchet, und ihr werdet finden, klopfet an, und es wird euch aufgetan werden“.  

Weil aber die Mehrzahl der hier Versammelten die Sorge um die Kindererziehung, um Weib und Hausstand auf sich hat, sind sie nicht in der Lage, sich ganz einer solchen Arbeit hinzugeben. Darum seid wenigstens bereit, die von andern gesammelten Gedanken anzunehmen, und laßt euch die Anhörung ihres Vortrages wenigstens so sehr angelegen sein wie den Erwerb von Geld. Wenn es auch fast eine Schande ist, nur eine solche Sorgfalt von euch zu verlangen, so bin ich doch damit zufrieden, wenn ihr nur diese aufbringt.

Unzählige Übelstände schreiben sich her von der Unkenntnis der hl. Schriften; von da quillt der Schlamm der vielen Irrlehren auf, darauf geht das sorglose Leben so vieler zurück, davon kommt es her, daß ihre Arbeiten ohne Ertrag sind. Denn gerade so wie die des Augenlichtes Beraubten nicht ihre geraden Wege gehen können, ebenso müssen die, welche kein Auge haben für das Licht, das aus den göttlichen Schriften strahlt, in vielen Dingen und beständig irren, da sie ja in dichtester Finsternis dahinschreiten.

Damit dies nicht geschehe, wollen wir unsere Augen für die Lichtstrahlen der apostolischen Worte offen halten. Denn die Sprache dieses Apostels überstrahlt ja an Glanz die Sonne, und alle andern übertrifft er durch seinen Lehrvortrag. Weil er sich mehr als sie abgemüht hat, darum hat er auch die Gnade des Hl. Geistes in vollem Maße auf sich gezogen. Das kann ich nicht bloß aus seinen Briefen beweisen, sondern auch aus der Apostelgeschichte. Denn wenn es irgendwo erforderlich war, öffentlich aufzutreten, wiesen (die andern Apostel) dies immer ihm zu. Darum wurde er von den Heiden für Hermes gehalten, weil er das Wort in seiner Gewalt hatte.

Johannes Chrysostomus (344-407), Auszug aus: Kommentar zum Briefe des hl. Paulus an die Römer (BKV) - ERSTE HOMILIE: Einleitung.